Die Gemeinde der Berliner Gethsemanekirche hat eine lange Tradition des politischen Engagements. Auch heute setzt sie sich mit Mahnwachen aktiv für internationale Menschenrechte ein.
Kniend, die Hände gefaltet und den Blick hoffnungsvoll gen Himmel gerichtet, harrt die Figur „betender Christus“ des Künstlers Wilhelm Groß im Seitenflügel der Gethsemanekirche aus. Neben ihr zeugen bedruckte Banner von der revolutionären Geschichte des Gotteshauses. Im Oktober 1989 befand sich hier eine der wichtigsten Anlaufstellen für Oppositionelle der DDR. Noch heute prägt der politische Charakter die Gemeinde.
Über den Altarbänken haben einige Besucher eine weiß-rote Fahne entrollt. Sie ist Symbol der Proteste in Belarus, die sich gegen die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl vom 9. August richten. Internationale Experten vermuten eine Wahlfälschung von Regierungsseite. Amtsinhaber Aljaksandr Lukashenka geht mit brutaler Polizeigewalt und Verhaftungen gegen die weitgehend friedlichen Demonstranten im Land vor.
Seit Anfang September finden in der Gethsemanekirche deshalb an jeden Dienstag Mahnwachen statt, die den zu Unrecht Inhaftierten gedenken. Bestandteil der Andachten sind sowohl klassische religiöse Texte, wie die Bibelpassage, deren Aufruf „Wachet und betet“ das Motto der Zusammenkünfte stellt, als auch Informationen zum aktuellen politischen Geschehen in Belarus. So erfahren Besucher beispielsweise von Graswurzelinitiativen in den Minsker Nachbarschaften oder der Rolle der Feuerwehr im Staatsapparat.
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Zur Ruhe kommen können
„Für viele Belarussen, die hier in Berlin im Exil leben, ist die Kombination von Kirche und Politik etwas völlig Neues“, erklärt Ina Rumiantseva. Als Aktivistin der belarussischen Diaspora organisiert sie gemeinsam mit einer Gruppe Angehöriger der Gethsemane-Gemeinde die wöchentlichen Zusammenkünfte. „Für uns ist es psychologisch enorm wichtig, in einem solchen Rahmen mal zur Ruhe kommen zu können. Besinnen und Gedenken bilden ein schönes Gegengewicht zu den kraftzehrenden politischen Aktionen, die unsere Community sehr beanspruchen.“
In ihrem Update zur belarussischen Situation berichtet Rumiantseva von willkürlichen Verhaftungen und Freilassungen. Diese politische Einschüchterungsstrategie stammt ursprünglich aus dem Stalinismus und zog sich durch die sowjetische Geschichte. Rumiantseva zieht eine Parallele zu Deutschland: „Es erinnert sehr an die ‚Zuführungen‘ in der DDR.“ Stummes Nicken geht durch die Reihen. Viele der aktiven Gemeindemitglieder waren bereits zu Vorwendezeiten hier engagiert. So wie Hansjürg Schößler, der den religiösen Anteil der Andacht gestaltet.
Er hat den Prenzlauer Berg noch erlebt, als fast ausschließlich mit Öfen geheizt wurde und er mit seinen Freunden Kohle von der Straße stahl. Um die Wendezeit war er zunächst in der Gemeinde am Zionskirchplatz aktiv. „Im Juni ’89 war ich in der DDR inhaftiert, weil ich gegen Wahlfälschung protestiert hatte. Als ich im Oktober aus dem anschließenden Hausarrest entlassen wurde, bin ich sofort zur Gethsemanekirche gegangen. Da war die Zentrale des Widerstands.“
Tägliche Mahnwachen
Die Renaissance der Mahnwachen für weltweit zu Unrecht Inhaftierte, die täglich zu wechselnden Schwerpunkten stattfinden, kam 2017 zustande, als das Gemeindemitglied Peter Steudtner in der Türkei verhaftet wurde. Steudtner nahm dort an einem von Amnesty International organisierten Workshop zu Menschenrechten teil. Die türkische Anklage lautete auf Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Die Berliner Gemeinde reagierte und erlangte mit den Andachten für Steudtner bundesweite Aufmerksamkeit.
„Als man ihn entließ, haben wir einfach weiter gemacht. Es gibt so viele, die sich für Freiheit und Menschenrechte einsetzen und dafür zu Unrecht eingesperrt werden“, erzählt ein Gemeindemitglied, das nicht namentlich genannt werden möchte. „Die Gruppe ist sehr dezentral organisiert“, erklärt Rumiantseva. „Eine richtige Hierarchie gibt es nicht. Es kommen immer verschiedene Leute aus unserer Belarus Gruppe – teilweise um eigene Texte vorzutragen, teilweise um uns musikalisch zu unterstützen. “ Ein breites kulturelles Programm anzubieten, ist momentan schwierig: „Wir würden gerne mehr Veranstaltungen mit Gästen zum Thema Belarus ausrichten, aber das ist wegen Corona nicht möglich“, beschreibt Schößler die aktuellen Herausforderungen . Trotz der eingeschränkten Gelegenheiten, die Öffentlichkeit zu erreichen, formuliert er auch ein Ziel: „Wenn wir immer weiter machen, kommen irgendwann die Politiker.“
Wie wichtig ihre Arbeit nicht nur für die Menschen vor Ort, sondern auch für die konkret von Repressionen Betroffenen in den jeweiligen Ländern ist, wird immer wieder deutlich. In ihrer Ansprache an die Gemeinde erwähnt Rumiantseva, dass drei zu Unrecht inhaftierten jungen Frauen in Belarus übermittelt wurde, dass man in Berlin für sie betet. Am Eingang der Gethsemanekirche steht eine Brief-Box, mittels derer man politischen Gefangenen in der Türkei Mut zusprechen kann.
Auch mit Blick auf seine eigenen Erfahrungen in der DDR sagt Schößler: „Es hilft sehr, wenn man weiß, dass die Leute draußen an einen denken, dass man nicht vergessen ist“.
Dies ist ein Gastbeitrag von Katharina Angus
Foto oben: Statue der „Segnende Christus“ vor der Gethsemanekirche. © Katharina Angus