Prenzlauer Berg – für viele ist der Bezirk ein Synonym für eine “heile Welt”, in der junge Familien ein behütetes Leben zwischen Spielplätzen und Kinder-Cafés führen. Aber wie steht es eigentlich um die Teenager im Kiez?
Jutta Schmidt* hat sie noch gut vor Augen, ihre ersten Jahre im Prenzlauer Berg und die Kindergartentage ihres Sohnes. 2002 ist die alleinerziehende Mutter aus Thüringen in den wohl klischeebehaftesten Stadtteil Berlins gezogen. Und tatsächlich: Da waren der Kinderbauernhof und das Machmit-Museum, junge Eltern, die auf Spielplätzen Freundschaften schließen, während der Nachwuchs untereinander Bio-Reiswaffeln aus der Brotdose tauscht. So erinnert sich Jutta Schmidt in einem Gastbeitrag, den sie vor Kurzem auf dem Blog von zwei ehemaligen Kiez-Freundinnen veröffentlicht hat.
Alles in allem ist es ein pittoreskes Dorfleben, das die alleinerziehende Mutter zeichnet. Eine „merkwürdige Idylle”, der sie sich als alleinerziehende Mutter zwar nie wirklich zugehörig gefühlt habe, nun aber doch etwas nostalgisch darauf zurückblickt: Eine Zeit, in der Drogen, krumme Geschäfte und Trinkgelage bis zur komatösen Besinnungslosigkeit außerhalb ihrer Vorstellungskraft lagen. Denn heute ist es genau das, was die junge Mutter umtreibt: Der Alltag ihrer jugendlichen Kinder.
„Die meisten Eltern wissen nichts davon”, sagt Jutta Schmidt und berichtet von Vorfällen, die sie mehr als beunruhigen. Von dem Abend, als ihr 14-jähriger Sohn und seine Freunde in der Nachbarschaft überfallen und ausgeraubt wurden. Als ein erwachsener Mann die Jungs anstiften wollte, Falschgeld in Umlauf zu bringen. Oder als ein Schulkamerad ihres Sohnes nach einem Drogenexzess in psychiatrische Behandlung überwiesen wurde. „Wir haben früher auch lange gefeiert, aber solche Dimensionen hat das nicht angenommen”.
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„Das war doch schon immer so”
Es hat eine Weile gedauert, aber inzwischen weiß Jutta Schmidt, wo und wie der Freundeskreis ihres Sohnes die Abende verbringt: Am Starplatz, am Humannplatz oder am Helmholtzplatz – mit Alkohol und Cannabis, häufig aber auch mit härteren Drogen, die über Telegramm geordert oder direkt im Mauerpark gekauft werden. Jutta Schmidt spricht von einem „gut ausgebauten Netzwerk” zwischen Jugendlichen und Drogendealern, die genau wüssten, dass die Teenager in Prenzlauer Berg vor allem aus behüteten Elternhäusern kommen und für gewöhnlich mit mehr Taschengeld als der Durchschnitts-Teenie durch die Gegend laufen – und damit eine lukrative Kundschaft stellen.
„Das war doch schon immer so”, ist eine der häufigsten Reaktionen, die Jutta Schmidt entgegenschlägt, wenn sie anderen Eltern von ihren Sorgen berichtet. Eine Mutter habe das Ganze sogar sauer gemacht, erinnert sich Schmidt. Man solle sich nicht so anstellen und die Helikopter-Eltern raushängen lassen, so die Antwort der Bekannten. Noch heftiger fallen einige der Kommentare aus, die sich inzwischen unter Schmidts Gastbeitrag gesammelt haben. Ein Kommentator schreibt zum Beispiel: „Mal ehrlich: Wer, der bei klarem Verstand ist, zieht sein Kind in Berlin groß und erwartet, dass das nicht passiert? (…) Das müssten die Hipster-Muttis und -Vatis doch noch aus ihrer eigenen Jugendzeit kennen”. Ein anderer meint: „Viele, die Prenzlauer Berg erst bezogen haben und daraus ein bestimmtes Bild entstehen ließen, sind erschrocken, dass in dieser Bio-Öko-Szene auch knallharte Realität zu sehen ist”.
Das allseits bekannte “Bionade-Biedermeier”-Bashing an dieser Stelle einmal außen vorgelassen, stellt sich doch tatsächlich die Frage, ob sich so viel verändert hat in den vergangenen Jahrzehnten. Oder anders gesagt: Wie steht es um die Jugend in Prenzlauer Berg? Wie “normal” sind Alkohol- und Drogenkonsum und wie viele Orte gibt es abgesehen von Parkbänken und Spielplätzen, an denen sich Jugendliche im Kiez noch aufhalten können?
Alkoholvergiftungen nehmen zu
Die Stellungnahme des Bezirks liest sich erst einmal relativierend: „Das Ausprobieren von Dingen aus der Welt der Erwachsenen gehört zur Entwicklungsaufgabe Jugendlicher”, schreibt Rona Tietje, Jugendstadträtin in Pankow. Drogen seien in Prenzlauer Berg wie in jedem anderen Stadtteil verfügbar. “Unter Schulkindern spielen sie nach unserer Einschätzung kaum eine Rolle”. Und doch müssten die Sorgen der Eltern ernst genommen werden, so Tietje, die auf eine statistische Auswertung der Berliner Drogenberatungsstelle “Halt” hinweist. In der Zeit zwischen 2017 und 2019 hat der Verein für Suchtprävention den Drogenkonsum von Kindern und Jugendlichen in Berlin untersucht. Das Ergebnis: Nicht nur die Zahl der Alkoholvergiftungen unter Kindern und Jugendlichen steigt stetig (von 430 auf 500 Fälle in einem Jahr), sondern auch die der Eltern, die darauhin eine Beratung aufsuchen. Außerdem sei die Haupstadt im bundesweiten Vergleich Spitzenreiter, was den Konsum von Cannabis in jungen Jahren betrifft: Jungen und Mädchen beginnen laut der Studie 1,8 Jahre früher mit dem Rauchen von Cannabis, außerdem besitze jeder zweite Teenager in Berlin ein erhöhtes Risiko, abhängig zu werden.
Mit Alkohol und Joints ist es allerdings noch nicht getan: “Heute sind immer mehr und immer wieder neue Substanzen, insbesondere auch chemische Drogen auf dem Markt”, beobachtet Rona Tietje. Der Bezirk sei hier allerdings gut aufgestellt: „Die flächendeckende Suchtprävention wirkt. Bei vielen jungen Menschen gibt es eine klare Grenze, was sie nicht ausprobieren werden”.
Jugendliche werden als störend empfunden
Jutta Schmidt verwundert es kaum, dass sich der Nachwuchs im Kiez vor allem auf öffentlichen Plätzen trifft und dadurch immer auch mit Leuten in Kontakt kommt, die den Jugendlichen Drogen verkaufen. Schließlich gebe es im Kiez kaum geeignete Orte für Jugendliche. „Das ist so eine ‘In-between-Oase’, in der sich die Teenager befinden. Für Clubs sind sie noch zu jung und in Gaststätten kommen sie nicht rein. Also hängen sie besinnungslos auf irgendwelchen Spielplätzen herum”.
Dieses Phänomen beobachtet auch die Jugendstadträtin. Zwar gebe es allein in Prenzlauer Berg rund 18 Freizeiteinrichtungen für Jugendliche. Das Angebot auszubauen stehe deswegen aktuell nicht zur Debatte, erklärt sie. Teenager würden sich aber natürlich auch ohne Betreuer oder Sozialarbeiter treffen wollen und deswegen auf Bolzplätze, Parks oder andere Grünanlagen ausweichen. Und hier liegt Tietjes Ansicht nach das eigentliche Problem: Denn von genau solchen Orten gibt es im Prenzlauer Berg nur noch wenige: „Die verfügbaren Flächen sind begrenzt, viele Häuserlücken wurden geschlossen und Brachgrundstücke bebaut”. In der Folge hielten sich die Jugendlichen dann an Orten auf, an denen sie von Anwohnern oder anderen Nutzern als störend empfunden werden. Auf Kinderspielplätzen zum Beispiel.
Dass es im Bezirk genügend Grün- und Freiflächen gibt, sei also auch genau deswegen wichtig. Gleichzeitig wünscht sich die Jugendstadträtin aber auch mehr gesellschaftliche Akzeptanz, dass auch Jugendliche ihre Freiräume in der Stadt brauchen.
Jutta Schmidt ist noch unschlüssig, wie sie künftig mit der Situation umgehen will. Mit ihrem Sohn reden, das habe bisher am besten funktioniert. Und doch wünscht sich Schmidt, dass die Jugendlichen in Prenzlauer Berg auch anderswo einen Ansprechspartner bekommen. „Was fehlt, ist eine ‘coole’ Beratungsstelle, die mehr bietet als einen staubigen Sozialpädagogen, der den Kindern erzählt, wie schlecht Drogen sind”. Besser wäre ein junger Typ, ein Youtuber oder Influencer, sagt Jutta Schmidt. „Etwas anderes nehmen die Jugendlichen gar nicht an”.
*Name von der Redaktion geändert
Titelbild: Daria Tumanova / Unsplash.de