Schon lange vor der Corona-Pandemie klagten die Mitarbeiter*innen des Jugendamts Pankow über Zeitdruck und Überlastung. Sozialstadträtin Rona Tietje versprach damals Besserung. Was hat sich seitdem getan?
Fast zwei Jahre ist es nun her, dass die Jugendamtsmitarbeiter*innen in Pankow einfach nicht mehr schweigen wollten, nicht länger ungehört bleiben wollten. Und so schrieben sie einen anonymen Brandbrief, den sie an mehrere Zeitungsredaktionen schickten – und der eine Welle der Entrüstung auslösen sollte. „Kollegiale Überlastungsanzeige” war das Schreiben betitelt, in dem die Mitarbeiter*innen des Regional-Sozialpädagogischen Dienstes (RSD) über Personalmangel, Überarbeitung, Krankheit und Schlafstörungen klagten. Teilweise mehr als 100 Fälle bearbeite jeder Mitarbeiter gleichzeitig, und das unter widrigen Bedingungen, als da wären: viel zu kleine Räume, veraltete Technik, Zeitdruck.
Es war einer von vielen Hilferufen, die seit Jahren aus den Berliner Jugendämtern kommen. Schon lange beklagen Sozialarbeiter*innen im ganzen Bundesland, für ihre Arbeit weder finanzielle noch gesellschaftliche Anerkennung zu erhalten. Der Brief aus Pankow sollte Wirkung zeigen: Noch im Sommer 2018 gelobte Bezirksstadträtin Rona Tietje Besserung: Ab 2019 werde kein Mitarbeiter mehr als 65 Fälle gleichzeitig betreuen, außerdem sollen neue Mitarbeiter eingestellt und das Gehalt angehoben werden. Jetzt, fast zwei Jahre später, hat sich tatsächlich etwas getan im Jugendamt Pankow. Befriedigend ist die Lage aber noch lange nicht.
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„Einige Mitarbeiter müssen mit ihrem Privathandy telefonieren”
Das gesellschaftliche Klima ist rauer geworden. Mitarbeiter*innen werden teilweise auf offener Straße angegriffen oder bespuckt. Ein Mitarbeiter ist schon im Biomarkt vor seiner Tochter als Kinderschänder beschimpft worden.
Es ist Ende Februar, als die Sozialstadträtin in ihrem Büro sitzt und aufzählt, womit die Pankower Jugendamtsmitarbeiter seit Jahren zu kämpfen haben. Rona Tietje kennt die Zustände so genau, weil sie nach dem Brandbrief für einen Tag im Regional-Sozialpädagogischen Dienst (RSD) Weißensee hospitiert hat – um sich selbst einmal einen Eindruck über die Bedingungen vor Ort zu verschaffen, wie sie sagt. „Einige Mitarbeiter*innen müssen ihre beruflichen Gespräche mit dem Privathandy führen”. Hinzu komme der immer höhere psychische Druck. Berlinweit häufen sich die Fälle von Vernachlässigung, häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch gegenüber Kindern. Die Mitarbeiter*innen tragen eine Verantwortung, die mehr Anerkennung verdient, findet Tietje.
Und tatsächlich konnte die Sozialstadträtin zumindest teilweise etwas bewegen: Nach dem anonymen Brandbrief aus Pankow vor fast zwei Jahren hat der Bezirk 18 neue Stellen im RSD geschaffen. Dank Dauerausschreibungen, Trainee-Programmen und Jobs für Studenten sind inzwischen nur noch fünf der insgesamt 95 Vollzeitstellen unbesetzt. Zum Vergleich: 2018 waren 13 von 77 Stellen in Pankow vakant. Statt bislang drei Regionalen Jugendberatungsstellen gibt es nun vier RSD-Standorte in Pankow.
Und was ist aus der Versprechung geworden, kein Sozialarbeiter werde künftig mehr als 65 Fälle betreuen müssen? Durch die Umstrukturierung habe sich die Situation verbessert, so Tietje. Konkrete Zahlen gibt es noch keine, die das belegen würden. Dass man sich zur Berechnung der Belastung an der Anzahl der Fälle pro Mitarbeiter*in orientiert, sieht die Jugendstadträtin allerdings ohnehin kritisch. „Wenn sich ein Jugendlicher zwei Stunden beraten lässt, weil er Schulprobleme hat, dann ist das ein Fall. Aber auch eine hochkomplexe Kinderschutzmaßnahme mit familiengerichtlichem Verfahren im Nachgang ist ein Fall”. Wie viele „schwere” Fälle die einzelne Person am Ende betreue, sei entscheidend. So scheint es auch der Senat zu sehen, der aktuell eine neue Bemessungsgrundlage ausarbeitet.
Einsteiger bekommen 500 Euro mehr Gehalt
Faire, attraktive Arbeitsbedingungen, das bedeutet auch, für getane Arbeit angemessen entlohnt zu werden. Der Bezirk Pankow konnte hier zumindest für die im Kinderschutz tätigen Mitarbeiter*innen etwas erreichen: Spätestens im Juli soll die Bezahlung der RSD-Mitarbeiter angehoben werden. Statt bislang 2800 Euro Brutto sollen die Mitarbeiter dann rückwirkend zum 1. Januar 2020 ein Einstiegsgehalt von 3370 Euro bekommen. Netto sind das etwa 2100 Euro.
„Das war ein Kampf”, sagt Rona Tietje rückblickend. Mit der Senatsverwaltung für Finanzen habe man zäh um den neuen Tarifvertrag gerungen, der übrigens berlinweit gelten soll. „Normalerweise ist dafür ein furchtbar bürokratisches Verfahren notwendig, das etwa anderthalb Jahre dauert”. Die Finanz-Senatsverwaltung hat darauf nun verzichtet. Aber wiegt das neue Gehalt auf, was die Sozialarbeiter tagtäglich leisten? Tietje zögert. „Die sozialen Berufe könnten sowieso besser bezahlt werden”. Wie viel Geld die Bezirke vom Senat erhalten, ist allerdings an ein teilweise fragwürdiges Budgetierungssystem geknüpft. So bekommt zum Beispiel der Bezirk die meisten Mittel, in dem die meisten Kinder leben, die bei nur einem Elternteil aufwachsen. Pankow ist als Bezirk stark gewachsen – schrumpft nach diesem Prinzip aber, weil hier vergleichsweise wenige Alleinerziehende leben.
“Geld ist nicht das primäre Problem”
Für Hannes Wolf sind die Verbesserungen im Pankower Jugendamt nur ein Tropfen auf den heißen Stein. “Es reicht nicht, nur auf die unbesetzten Stellen zu gucken”, sagt der Vorsitzende des Landesverbandes Berlin des Deutschen Berufsverbands Soziale Arbeit (DBSH), der im ständigen Austausch mit den einzelnen Jugendämtern in Berlin steht. “Wir erleben gerade einen Generationenumbruch. Nach dem jahrelangen Personalstopp kommen jetzt zwar junge motivierte Kolleg*innen dazu – aber die müssen auch eingearbeitet werden. Wenn eine Region in der Krise ist, dann herrscht sofort Überlastung.
Für die jungen Mitarbeiter*innen gibt es kein Anerkennungsjahr, keine Berufseinmündungsphase oder Ähnliches, weil dafür schlichtweg die Zeit fehlt”. Die neue Tariferhöhung hält Wolf für einen wichtigen Schritt. “Aber statt 200 Euro mehr im Monat braucht es eine ordentliche Vertrauenskultur”. Die Leute müssten das Gefühl bekommen, dass sie ihren Auftrag richtig ausführen können und zufrieden nach Hause gehen. „Wenn sie die Kollegen fragen, dann nennen sie Geld nicht als das primäre Problem”. Stattdessen seien es der enorme Druck, die Geschwindigkeit und die Belastung mit zu vielen Fällen, die auf die Psyche der Mitarbeiter*innen schlagen.
Kaum rechtliche Rückendeckung
Verschärft wird all das durch die ständige Angst, durch eine Entscheidung vor Gericht zu landen, den Job zu verlieren oder gar ins Gefängnis gehen zu müssen. Denn woran sich seit Jahren nichts geändert hat, ist der fehlende rechtliche Beistand für die Sozialarbeiter*innen. Immer häufiger verklagen frustrierte Eltern die Mitarbeiter*innen als Privatpersonen, die sich dann vor Gericht verantworten müssen – und sich dann vielfach selbst um einen Anwalt kümmern müssen.
Auch der Bezirk Pankow hat dafür noch keine Lösung gefunden. „Ich glaube, die meisten Bezirke machen einen guten Job, was Veränderungen angeht”, bilanziert Hannes Wolf. Ein wesentliches Problem sei aber, dass in Berlin jeder Bezirk „sein eigenes Süppchen kocht”. Wolf findet das „schwachsinnig”. Was es brauche, sei ein berlinweit einheitliches System, wie man das Personal bemisst, die Teamkuktur und die Organisation verbessert.
Auch Rona Tietje wäre es lieber, wenn nicht jede kleine Veränderung einen langwierigen, mühsamen Papierkrieg verlangen würde. Die Sozialstadträtin weiß, dass die Situation in den Jugendämtern alles andere als optimal ist. Auch wenn es jetzt etwas mehr Geld für die Mitarbeiter*innen gibt, fehle es doch vor allem an einem: Wertschätzung. „Jugendamtsmitarbeiter*innen genießen lange nicht das gleiche Prestige wie ein Feuerwehrmann”, so Tietje. „Das sind immer noch die, die den Eltern die Kinder wegnehmen”.
Foto: Michal Pazuchowski/Unsplash