Mendelssohn-Bartholdy-Gymnasium

„Das kann keine Schule stemmen“

von Mona Linke 23. April 2020

Berlin ist bereit, die Schulen wieder schrittweise zu öffnen, findet der Senat. Ein Schulleiter aus Prenzlauer Berg sieht das anders – und fürchtet eine Ausbreitung der Infektionen.


Es sind vor allem drei Worte, die auf dem Gelände des Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Gymnasiums dieser Tage am häufigsten fallen: „Bitte Abstand halten”. So zumindest berichtet es Pierre Tschiche. Es ist Mittwoch, der 22. April, und der stellvertretende Schulleiter führt mit Atemschutzmaske durch ein menschenleeres Schulgebäude. Wer dieser Tage das Gymnasium betreten will, muss sich zuerst per Gegensprechanlage im Sekretariat vorstellen, bevor der Türsummer ertönt. Oben wird man dann empfangen – hinter Plexiglas, versteht sich – und bekommt eine Schutzmaske ausgehändigt. Die Schule hat sie sich über Ebay besorgt. 

Man will perfekt vorbereitet sein, wenn zwei Tage später die Abiturient*innen hier auflaufen, um ihre Englisch-Prüfung abzulegen. 70 Schüler*innen werden es sein, verteilt auf neun Räume. So sieht es die Senatsvorschrift vor, laut der nur maximal acht Schüler*innen in einem Raum sitzen dürfen. Nur über den Hof dürfen die Jugendlichen das Gelände betreten, werden dann im Viertelstundentakt durch ein mit Slalomstangen abgestecktes Wegeleitsystem geschleust und ihren Räumen zugeteilt. Ja, es herrscht Struktur in dem Gymnasium an der Pasteurstraße. Sie reicht von rot-weißen Markierungen auf dem Boden bis hin zu Hygieneboxen auf den Tischen, in die die Schüler*innen ihre benutzten Taschentücher schmeißen können. Beruhigt ist man deswegen nicht. 

 

„Wir sind nicht über den Berg“

„Das ist verfrüht”, sagt Peter Stock, der das Mendelssohn-Bartholdy-Gymnasium leitet. Der Rektor ist selbst Risikopatient und sitzt deswegen seit Wochen im Home-Office. Dass jetzt auch in seiner und den anderen Berliner Schulen Abiturprüfungen abgehalten werden, hält er für alles andere als zielführend. „Wir sind nicht über den Berg. Und die Schule ist ein wunderbarer Infektionsherd”, so Stock. 

Die Schüler*innen seien zwar vernünftig und wahrscheinlich eher als Grundschulkinder in der Lage, sich an Abstandsregeln zu halten, wie das Robert-Koch-Institut (RKI) seine Empfehlung begründet hatte. „Aber wir waren auch alle mal jung”, so Stock. Was vor der Tür passiere, könne man ohnehin nicht kontrollieren. „Die jungen Leute haben sich eine ganze Weile nicht gesehen. Da fällt das Abstand halten schon mal schwer”. 

Auf dem Schulgelände könnten die Regeln schon eingehalten werden, so Stock. Sofern dann tatsächlich immer nur acht Schüler*innen in einem Raum sitzen. Wie sie das organisiert kriegen sollen, ist der Schulleitung allerdings noch schleierhaft. Schließlich kommen ab Montag noch die zehnten Klassen dazu, die auf den Mittleren Schulabschluss (MSA) vorbereitet werden sollen. Und die Woche darauf die elften. „Das bringt uns an unsere Kapazitätsgrenzen”, sagt der Rektor. Und: „Das kann keine Schule stemmen”. 

Die Aula wird zum Prüfungsraum. Foto: Mona Linke

Die Aula wird zum Prüfungsraum. Foto: Mona Linke

 

40 Lehrkräfte müssen im Home-Office bleiben

Auch Stellvertreter Tschiche hat Zweifel: „Die oberen Klassen haben ja Kurse. Wenn nun acht Schüler pro Kurs erlaubt sind, was machen dann die anderen 16 in der Zeit?” Auch personell steht das Prenzlauer Berger Gymnasium vor einer Herausforderung. Denn Schulleiter Stock ist lange nicht der einzige Risikopatient, für den das Virus gefährlich werden könnte. Insgesamt 40 von 97 Lehrkräften sind ausgefallen. 

Ganz ausgereift ist das System also auch am Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Gymnasium noch nicht. An diesem Mittwochmorgen schweben auch dort die Kollegen noch in Unwissenheit und warten – wie alle anderen Berliner Oberschulen – auf die nächsten Instruktionen von oben, genauer: von Schulsenatorin Scheeres. 

Peter Stock hätte lieber sein eigenes System durchgesetzt: „Ich hätte die Prüfungen auf das neue Schuljahr verlegt und stattdessen das Home-Schooling anerkannt”. Die Schüler*innen würden ja zu Hause fleißig arbeiten, so Stock. „Die haben ein Pensum von 33 Wochen, das ist ein ganz schöner Brocken. Das hätte man ja begutachten und in die Gesamtleistung einbringen können”. 

 

Abi-Prüfungen unter Protest

Peter Stock ist nicht der einzige, dem die Lockerungen zu schnell gehen. Zuletzt hatte sich auch Pankows Bürgermeister Sören Benn (Linke) entschieden gegen die Wiedereröffnung der Schulen ausgesprochen. In der Berliner Zeitung regte er jüngst eine Verkürzung der Sommerferien an. Und schon vor zwei Wochen warnte der Bezirksbürgermeister vor einer zu schnellen Lockerung. „Ich halte die, auch allmähliche, Rückkehr zum Präsenzbetrieb in den Schulen vor den Sommerferien für falsch”, schrieb Benn vor zwei Wochen auf dem Nachrichtendienst Twitter. „Sie stellt Schulleitungen vor unerfüllbare, epidemiologisch-logistische Aufgaben, an denen sie nur scheitern können”. Man solle sich lieber darauf konzentrieren, neue Lernformen wie Telefon- und Videosprechstunden zu etablieren, forderte Benn damals. Auch schlug er vor, Schüler*innen außerhalb der normalen Klassenverbände in Stadtteilzentren, Kirchenräumen oder im Freien lernen zu lassen. 

Kritik an den Schulöffnungen kam aber auch von den Schülern selbst: Neben Protesten des Landesschülerausschusses, der ein Abi ohne Abschlusstests forderte, sorgte zuletzt auch der Fall einer Berliner Schülerin für Aufsehen. Weil sie zu Hause in beengten Verhältnissen lebe und sich dadurch nicht auf die Prüfungen habe vorbereiten können, forderte sie die Verschiebung der Abi-Prüfungen – und zog damit per Eilantrag vors Berliner Verwaltungsgericht. Das Gericht wies den Antrag ab. Die Begründung: Stress und Ängste im Zusammenhang mit einer Prüfungen gehörten “in den Risikobereich des Prüflings”. Allenfalls mit einem ärztlichen Attest, das ihr eine psychische Erkrankung nachweist, hätte die Schülerin Erfolg haben können. 

Es ist also, wie es ist. Das Land, die Stadt Berlin, der Prenzlauer Berg sollen schrittweise in den Alltag zurückfinden, angefangen bei den Jüngsten der Gesellschaft. Und so werden – nicht nur am Medelssohn-Batholdy-Gymnasium – wohl auch noch eine Weile die drei magischen Worte fallen: “Bitte Abstand halten”. 

Foto oben: Mona Linke 

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