Viele Unternehmen im Kiez fürchten wegen der Corona-Krise um ihre Existenz. Doch es gibt auch Läden, die ungewollt von der Situation profitieren.
Gnadenlos brennt die Mittagssonne auf Josef Anders‘ Laden an der Eberswalder Straße, drinnen ist die Luft dünn. Etwa ein Dutzend Menschen tummelt sich an diesem Dienstagmittag in dem kleinen Geschäft, Kinder wie Erwachsene. Konzentriert suchen sie mit den Augen die deckenhohen Holzregale ab, in denen sich Hunderte von Gesellschaftsspielen türmen. Partyspiele, Familienspiele, Strategiespiele. Eine Dame trägt gleich einen ganzen Stapel bunt bedruckter Kartons zur Kasse.
Josef Anders – aufgeweckter Blick, freundliches Lächeln und die Hände bei jedem Satz fuchtelnd in der Luft – ist pro Minute in drei Kundengespräche verwickelt. Manchmal geht es auch schneller: „Haben Sie auch Puzzle?”, möchte eine junge Frau im Parka wissen, sie wirkt gestresst. Anders zückt eine Visitenkarte und verweist auf seinen zweiten Laden, das Puzzlegeschäft Berlin. Die Frau wirkt beruhigt. „Es ist Wahnsinn. Schauen Sie sich das hier an“, sagt der Unternehmer und lässt den Blick durch den Laden schweifen. „Das wäre ja eigentlich auch verboten”.
Umsatz wie in der Vorweihnachtszeit
Zur Einordnung: Es ist Dienstag, der 17. März. 520 nachgewiesene Corona-Fälle gibt es in Berlin, Bars, Clubs, Schulen und Kitas mussten bereits den Betrieb einstellen und die Regierung bittet die Bürger eindringlich, zu Hause zu bleiben.
Es ist der letzte Tag, bevor auch die meisten Einzelhändler ihre Pforten bis auf unbestimmte Zeit schließen müssen. Und wie vor vielen anderen Geschäften in Prenzlauer Berg wird auch vor dem Brettspielgeschäft an der Eberswalder Straße ab morgen eine rot-weiße Baustellen-Absperrung stehen.
Doch Josef Anders hat Glück: Denn der Brettspiel-Verkäufer macht seit vier Tagen einen Umsatz wie sonst nur in der Vorweihnachtszeit. Neben Herstellern von Desinfektionsmitteln, Schutzmasken und Popo-Duschen, Essens-Lieferdiensten und Streaming-Angeboten ist er unverhofft zu einem Profiteur der Krise geworden. Denn seit klar ist, dass mehrere Hunderttausend Schul- und Kita-Kinder für die nächsten Wochen, wenn nicht Monate, zu Hause betreut und bespaßt werden müssen, rennen die Prenzlauer Berger*innen Anders den Laden ein.
Überleben bis Ende Mai gesichert
Normalerweise sind es vor allem Strategiespiele für Erwachsene, die Anders verkauft. Seit Kurzem nun eben Kinderspiele. Trotzdem, der Unternehmer ist froh über jeden Kunden: „Jeder Tag wie heute verschafft uns eine Woche Luft”, sagt er.
Und Anders ist optimistisch: „Ich denke, wir werden die Durstrecke damit auffangen und bis Ende Mai überleben können”. Dennoch, Hilfe vom Senat nehme man natürlich gerne an. Mit überteuerten Krediten könne der Geschäftsführer allerdings nichts anfangen: „Wenn ich sieben Prozent Zinsen auf einen Kredit zahle, nützt mir das auch nichts”.
Mitarbeiter auf Kurzarbeit umstellen oder gar entlassen, kommt für den Geschäftsführer dagegen nicht infrage. Stattdessen setzt er auf Arbeitszeitkonten: Die Stunden, die jetzt wegfallen, holen die Mitarbeiter später im Jahr nach. Auch will Anders den Betrieb nicht zurückfahren, im Gegenteil: Die ruhige Zeit nutze man jetzt, um das Angebot auszuweiten: Neuer, schöner, größer soll sein Brettspielgeschäft sein, wenn es dann wieder öffnen darf. Wann das sein wird? Unklar. Auf der Website jedenfalls heißt es: „Wir sind bald wieder für euch da!”
„Die Leute haben sich Vorratsstapel angelegt“
In Zeiten von sozialer Isolation und viel, viel, Zeit mit der Familie ist Josef Anders mit seinem Brettspielgeschäft nicht der einzige ungewollte Krisen-Profiteur in Prenzlauer Berg. Nicht weit entfernt, an der Greifswalder Straße, betreibt Stefanie Diez einen Buchladen, dessen 70 Jahre alter Leitspruch dieser Tage wie Zynismus klingen mag: „Lesen ist ansteckend”, steht auf einem Schild im Schaufenster der Insel-Buchhandlung, daneben eine Comic-Zeichnung von einem nett grinsenden Krokodil, das in einem Buch blättert.
„Vor zwei Wochen ging der Ansturm los”, sagt Stefanie Diez. „Die Bibliotheken sind geschlossen und zu Hause sitzen die arbeitenden Eltern mit ihren schulpflichtigen Kindern. Da ist ein Buch natürlich super”. Wie begehrt Literatur dieser Tage ist, lässt sich an Diez‘ Umsatz ablesen: 35 Prozent mehr als im vergangenen März hat die Unternehmerin verdient – und das schon Mitte des Monats. „Die Leute haben auch hier richtig gehamstert und sich Vorratsstapel an Büchern angelegt”, so die Prenzlauer Bergerin.
Die Insel-Buchhandlung hatte sich längst auf die angeordnete Schließung der Läden vorbereitet und sogar schon einen Lieferservice für den Kiez geplant. „Ich wäre selbst mit dem Fahrrad rausgefahren”, berichtet die Buchhändlerin.
„Unglaublich inkonsequent”
Seit Mittwoch nun ist klar: Buchläden sind von der Verordnung des Senats ausgenommen. Eigentlich eine gute Nachricht für Diez. Doch die ist verärgert: „Das ist der Oberwitz”. Klar, dem Geschäft komme das sehr zugute. Zumal sie die Durststrecke auch mit den höheren Einnahmen in den vergangenen Tagen nicht hätte überstehen können. Und doch: Angesichts der aktuellen Lage hält die Inhaberin die Entscheidung des Senats für falsch: „Ich finde das unglaublich inkonsequent, das macht mich fast sprachlos”.
Stefanie Diez hat deswegen beschlossen, selbst Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Ihr Laden bleibt von 9.30 Uhr bis 16 Uhr geöffnet, allerdings dürfen sich nur maximal drei Kund*innen gleichzeitig in dem Laden aufhalten. Und die müssen dann einen Mindestabstand von 1,50 Meter wahren.
Und sollte sich der Senat doch noch umentscheiden und auch die Schließung der Buchläden anordnen, ist das Ladenteam der Insel-Buchhandlung darauf vorbereitet. Bei einer allgemeinen Ausgangssperre dagegen, wie sie die Bundesregierung aktuell erwägt, könnte Diez auch keine Bücher mehr ausfahren. Wichtiger sei ihr aktuell aber vor allem eines: „Dass wir alle sicher und gesund durch diese Zeit kommen”.
Fotos: Mona Linke