Ablehnung trotz exzellenten Notendurchschnitts und täglich zwei Stunden pendeln. Auch 2019 wird nach dem Versand der Schulbescheide deutlich: Pankow hat ein Bildungsproblem.
Dass es so kompliziert werden würde, hätte Bettina* nicht gedacht. Für ihren Sohn Jasper suchte sie einen Platz auf einer der fünf weiterführenden Schulen in Pankow, die Schüler*innen bereits ab der 5. Klasse aufnehmen, zum Beispiel in so genannten „Schnelllernerklassen“. Mit einem Notendurchschnitt von 1,2 und einem großen Interesse an Mathematik und Naturwissenschaften fühlte sich der Zehnjährige auf der Grundschule unterfordert, wollte auf ein Gymnasium mit MINT-Schwerpunkt wechseln – am liebsten auf das Käthe-Kollwitz-Gymnasium in der Dunckerstraße. Doch bei der dortigen Aufnahmeprüfung erreichte Jasper nur sieben von zehn möglichen Punkten – und die Chance auf einen der 59 Schulplätze, auf die in diesem Jahr rund 170 Bewerber*innen kamen, sank enorm. Blieb noch die Hoffnung auf den Zweit- und Drittwunsch, den man bei der Bewerbung angeben kann.
Doch das Schulamt zerstörte auch diese: Zweit- und Drittwünsche seien eigentlich überflüssig, sagte man ihr dort; die Schulen seien alle so überbelegt, dass sie mit den Erstwünschen schon ausreichend ausgelastet wären. Bettina bekam eine Liste mit alternativen Schulen außerhalb von Pankow – unter anderem dem Melanchthon-Gymnasium in Marzahn mit musikalischem Schwerpunkt sowie einer bilinguale Schule für Deutsch und Chinesisch. Letztendlich hat sie Jasper nun an einem altsprachlichen Gymnasium in Steglitz angemeldet; wird er dort angenommen, bleibt seiner alleinerziehenden Mutter nur noch der Umzug aus dem Gleimkiez in den Westen der Stadt, damit er nicht jeden Tag zwei Stunden pendeln muss. Streng genommen könnte Jasper noch zwei Jahre auf der Grundschule im Gleimkiez bleiben. „Aber dann gehen in zwei Jahren die Probleme von vorne los. Und ich kann ihn doch nicht mit dem Gefühl allein lassen, er sei mit einem Notendurchschnitt von 1,2 zu schlecht für die Oberschule!“
___STEADY_PAYWALL___
Härtefälle und Losverfahren
Die Misere um die Schulbescheide im Bezirk Pankow ist nicht neu. Im vergangenen Jahr sprachen wir mit einer Familie, deren zweites Kind bis in den Grunewald fahren sollte, um die weiterführende Schule zu erreichen – obwohl Geschwisterkinder laut Schulgesetz mit so genannten „Härtefällen“ eigentlich zu den dreizehn Prozent gehören, die besonders berücksichtigt werden. Mindestens 60 Prozent der Plätze werden über die – von Schule zu Schule – variierenden Aufnahmeprüfungen vergeben, über die restlichen 30 Prozent entscheidet das Los.
Im Schulgesetz heißt es:
Kann die Schülerin oder der Schüler nicht gemäß dem Erstwunsch ihrer oder seiner Erziehungsberechtigten in die von ihnen ausgewählte Schule aufgenommen werden, so wird ihren oder seinen Erziehungsberechtigten von der zuständigen Schulbehörde eine aufnahmefähige Schule unter Berücksichtigung der Zweit- und Drittwünsche benannt.
Und häufig bedeutet das, dass die Schulen am anderen Ende der Stadt liegen.
Täglich bis nach Wilmersdorf
So auch bei Karen*, deren Tochter Elisa nach den Sommerferien in die 7. Klasse kommt. Sie bewarb sich bei der Kurt-Schwitters-Schule in der Greifswalder Straße mit dem Wissen, dass man einen Notendurchschnitt von mindestens 1,7 braucht, um aufgenommen zu werden. Die Zwölfjährige arbeitete sich von einem Notendurchschnitt von 2,1 auf 1,7 hoch: „Ab dem zweiten Halbjahr der 5. Klasse, als die Zensuren für das ‚Bewerbungszeugnis‘ wichtig wurden, konnte sie kaum noch schlafen – dabei haben wir Eltern nie Druck gemacht!“, erzählt Karen. Elisa wurde trotzdem abgelehnt, der Schnitt war mittlerweile auf 1,5 hochgesetzt worden. Das Schulamt wies ihr einen Schulplatz in Wilmersdorf zu, durchschnittlich 45 Minuten Fahrtzeit pro Strecke wären das jeden Tag. „Schulwege bis zu einer Stunde im Oberschulbereich sind nach gängiger Rechtssprechung nicht zu beanstanden“, zitiert Schulstadtrat Thorsten Kühne (CDU) dazu das Berliner Schulgesetz.
Auch Tim wird nach den Sommerferien täglich viel Zeit in der S-Bahn verbringen – er gehört zu den fast 60 Schüler*innen aus Prenzlauer Berg, denen ein Schulplatz in Grunewald zugewiesen wurde. „Weil er in die 7. Klasse wechselt und nunmal Schulpflicht herrscht, haben wir keine andere Wahl – ich hätte mich sogar mit Baulärm oder Unterricht in Containern zufrieden gegeben, wenn die Schule in der Nähe wäre“, berichtet seine Mutter. „Dies ist eine Großstadt und unser Sohn darf sich alleine in ihr bewegen, doch bei manchen Situationen, zum Beispiel in der Ringbahn, möchte ich nicht, dass er unbegleitet ist“, erzählt sie besorgt. Weil bei der Vergabe des Platzes in ihren Augen einiges schiefgelaufen ist, hat sie sich einen Anwalt genommen; die Chance auf Erfolg stehen Hälfte-Hälfte.
Neubauten dringend benötigt
Eigentlich sollte der Platzmangel an den Schulen angesichts der Geburtenstärke in Pankow nicht überraschend sein. Ist er auch nicht, wie aus einer kleinen Anfrage der Bezirksverordneten Jaana Stiller (Linke) Anfang des Jahres nach geplanten Schulneubauten ersichtlich wird: „Bis zu 12.000 zusätzliche Schulplätze müssen langfristig (Zeitraum bis 2028) im Bezirk geschaffen werden, sowohl durch den Neubau von Schulen als auch durch den Ausbau bestehender Schulstandorte“, heißt es in der Antwort von Thorsten Kühne.
Geplant sind aktuell Erweiterungen des Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Gymnasiums, des Coubertin-Gymnasiums und der Pasteurschule. Ungefähr zwei neue Oberschulen würden im Bezirk gebraucht, so Kühne weiter. Für das Schuljahr 2018/19 hatten sich 1.069 Schüler*innen um Plätze im Bezirk beworben, 878 von ihnen konnte der Erstwunsch erfüllt werden, die restlichen wurden auf andere Schulen verteilt. Über 2.000 Oberschüler*innen aus Pankow besuchen derzeit eine Schule in einem anderen Bezirk. Die Zahlen für das kommende Schuljahr 2019/20 liegen dem Schulamt noch nicht vor.
Ob Jasper am altsprachlichen Gymnasium in Steglitz aufgenommen wird und Bettina sich demnächst einem weiteren Problem stellen muss – der Wohnungssuche in Berlin –, entscheidet sich erst kurz vor den Sommerferien. Auch Tim wird sich erstmal an die Schule in Grunewald gewöhnen müssen. Nur Elisa wird weiter in Prenzlauer Berg zur Schule gehen: Vorsorglich hatten ihre Eltern sie zusätzlich an einer evangelischen Privatschule angemeldet.
* alle Namen im Text von der Redaktion geändert
1 Kommentar
Das ist ein ganz normaler Zustand und betrifft nicht nur den Prenzlauerberg. Wir nehmen den Weg aus den selben Gründen jeden Tag von Biesdorf nach Steglitz auf uns. Glücklich die, die umziehen können. Hat man aber eben wie wir gebaut ist es kein einfaches mehr. Für Eltern die ihre Kinder dann in der 5. Klasse auf dem Schulweg begleiten bedeutet dass dann 4 Stunden täglich in der S-Bahn verbringen. Wege bis zu einer Stunde sind mittlerweile in Berlin eher die Regel als die Ausnahme. Schlimmer wird es noch, wenn Wege wie von Schöneweide nach Hellerssdorf z.B. mit den öffentlichen zur Tortur werden und nur noch mit dem Auto möglich sind.