„Ostberlin war das Eldorado für Schwule und Lesben“, erinnert sich Matthias Freihof. Er war Hauptdarsteller im DEFA-Film „Coming Out“, der auf der diesjährigen Prenzlauer Berginale gezeigt wird.
Es gibt nur einen einzigen Defa-Film, der Homosexualität zum zentralen Thema hat: „Coming Out“ von Heiner Carow. Darin verliebt sich der junge Lehrer Philipp (Matthias Freihof), der eigentlich mit Tanja (Dagmar Manzel) liiert ist, in Matthias (Dirk Kummer). Auch dreißig Jahre nach seiner Premiere ist „Coming Out“ sehr gut gealtert. Die fand übrigens am Abend des 9. November 1989 (ja, wirklich) statt. Hauptdarsteller Matthias Freihof erinnert sich im Interview zurück.
Lieber Matthias, „Coming Out“ ist dreißig Jahre alt. Welche Relevanz hat der Film heute?
Ich bin noch immer viel mit dem Film auf internationalen Festivals unterwegs. Ich war in Italien damit und im russischen Sankt Petersburg und Novosibirsk, in Kanada, in der georgischen Hauptstadt Tbilisi und in Kiev. In Osteuropa habe ich ihn in den letzten Jahren öfter präsentiert. Und da ist er brandaktuell, denn Osteuropa heute ist noch viel restriktiver, als es die DDR damals war. Viele junge Menschen sind gläubig aufgewachsen und zerrissen zwischen ihrem Gefühl und dem Glauben. Denen rate ich: Den Glauben musst du nicht aufgeben, aber vielleicht die Kirche. Von anderen Filmen mit dieser Thematik unterscheidet ihn, dass er nicht für Insider aus der Szene gemacht ist und weder schockieren noch provozieren will, sondern sich ein breites Publikum damit identifizieren kann. Die Geschichte funktioniert und berührt Leute heute genauso wie damals. Außerdem ist der Film mit seinen vielen Straßenaufnahmen auch ein tolles Zeitdokument.
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Wie hast du das Schwulenleben der achtziger Jahre in der DDR erlebt?
Ich bin 1981 wegen der Liebe nach Ostberlin gekommen. Damals war Ostberlin das Eldorado für Schwule und Lesben, die Szene hier war sehr lebendig. Kneipen und Tanzschuppen wie der Burgfrieden in Prenzlauer Berg oder die Busche in Weißensee waren sehr beliebt und wurden auch von Westberlinern auf der Suche nach „Frischfleisch“ frequentiert. Andererseits gab es Razzien und Restriktionen, und die Furcht der Offiziellen vor HIV war groß. Hinweise deuten darauf hin, dass die Stasi gezielt Geruchsproben sammelte, um der Leute notfalls habhaft zu werden und sie zu internieren.
Wie kamst du zu „Coming Out“?
Eine Freundin von mir war mit dem Drehbuchautor befreundet, deswegen habe ich schon sehr früh von dem Film erfahren. Beim Casting war ich dann dreimal, erst alleine, dann wurde getestet, ob die Chemie zwischen Dagmar Manzel, die meine Freundin spielt, und mir stimmt. Was Heiner damals nicht wusste: Wir waren befreundet! Und schließlich ging es darum, ob Dirk Kummer und ich vor der Kamera als Paar passen würden – da ich selbst schwul bin, hatte ich keinerlei Berührungsängste mit der Filmfigur.
Du lieferst mir das Stichwort: Du hast den Film auch für dein eigenes Outing genutzt…
In der Öffentlichkeit, ja, privat war, seit ich 15 Jahre alt war, bekannt, dass ich schwul bin. Ich wollte keinen Film machen, der „Coming Out“ heißt, ohne mich öffentlich selbst zu meiner eigenen Homosexualität zu bekennen. Ich habe meine Eltern vorgewarnt und ihnen gesagt, dass sie gewappnet sein müssen. Meine Mutter meinte daraufhin nur: Das ist eine gute Gelegenheit, um Freunde auszusortieren.
Der Film thematisiert nicht nur Homosexualität, es werden in zwei Szenen in der S-Bahn auch Skinheads gezeigt.
Und die existierten in der DDR offiziell ja nicht. In der Realität sind sie auf Mopeds in Friedrichshain eingeritten, um Schwule zu verkloppen. Es gab verschiedene Versuche, ins Drehbuch einzugreifen, unter anderem vom damaligen Chef der S-Bahn. Heiner aber hatte das Standing eines erfolgreichen und international anerkannten Regisseurs. Auch wenn die Zensur es massiv versucht hat, ließ er sich nicht einfach so wegdrücken.
Was war denn die Intention von Regisseur Heiner Carow?
Heiner hat sozialkritische Filme gemacht und wollte in erster Linie eine Liebesgeschichte erzählen, ganz ohne Schranken zwischen homo- oder heterosexuell. Er hatte dem Drehbuch drei Gutachten beigelegt, ein medizinisches, ein soziologisches und ein historisches, die bestätigten, dass Homosexualität „unbedenklich“ sei. Es gab trotzdem Widerstände. Bei einem Treffen der Akademie der Künste begegnete Carow dem „obersten Meinungsmacher“ der DDR, Kurt Hager. Der schätzte Heiner Carow und winkte über den Kopf des DEFA-Chefs hinweg den Film durch mit den Worten „dann macht halt deinen Film!“. Auch die Dreharbeiten waren nicht immer leicht, so war beispielsweise das Filmmaterial reglementiert. Für Nachtaufnahmen gab es limitiertes Kodak-Material aus dem Westen. Beim Dreh für eine Cruising-Szene in Friedrichshain standen wir plötzlich ohne Filmmaterial da. Heiner besaß einen ständigen Pass und konnte ohne Probleme „rüber“ reisen. Er fuhr also kurzentschlossen zu einem befreundeten Filmproduzenten nach Westberlin, während alle am Set auf ihn warteten mussten. Nach zweieinhalb Stunden kam er mit einer weiteren Filmrolle zurück.
Die Premiere war in vieler Hinsicht außergewöhnlich, der Film lief nicht nur der hohen Nachfrage wegen gleich zweimal, sie fand auch ausgerechnet in der Nacht des Mauerfalls statt.
Diese Geschichte habe ich wirklich schon sehr oft erzählt.
Ich befürchte, du musst nochmal durch.
Während der zweiten Vorführung gab es ein Publikumsgespräch im großen Foyer des Kinos International und da bemerkten wir, dass irgendwas anders war als sonst – vor den Fenstern sah man endlose Trabbi-Lawinen. Die Premierenfeier sollte im Burgfrieden stattfinden, und nach kurzem Zögern beschlossen wir, auch dorthin zu gehen anstatt zur Mauer. Im Burgfrieden gab es einen ganz tollen Moment: Ein Freund von uns, den wir wenige Wochen zuvor unter Tränen verabschiedet hatten, weil sein Ausreiseantrag genehmigt worden war und wir nicht wussten, wann wir ihn wiedersehen würden, stand plötzlich vor uns.
Wie war denn die Rezeption von „Coming Out“? Ging der Film im allgemeinen Trubel unter?
Nein, gar nicht, die Wendewirrungen haben das nicht beeinflusst. Es kamen übrigens viele Westberliner rüber, um ihn im Kino zu sehen, und bei der Berlinale später gewann der Film den silbernen Bären. „Coming Out“ wird noch immer weltweit gezeigt, und manchmal setze ich mich ins Publikum, um zu schauen, wie die jungen Menschen heute darauf reagieren. Was bleibt, ist die Liebesgeschichte und der innere Kampf des Protagonisten. Es ist schließlich für jeden Teenager schwer, zu seiner Sexualität zu finden, ob homosexuell oder nicht. Für mich ist der Film auch ein Wiedersehen mit denen, die nicht mehr sind, wie mit dem außergewöhnlichen Kameramann Martin Schlesinger, der erst kürzlich verstorben ist.
Vielen Dank für das Gespräch!
Im Rahmen der Prenzlauerberginale wird „Coming Out“ am 26. März im Babylon Kino gezeigt, im Anschluss gibt es ein Gespräch mit Matthias Freihof.
Dieser Text gehört zu unserem Schwerpunkt „Film und Kino in Prenzlauer Berg“. Es ist der erste Teil.