Zimmerreise Pflanzen Fensterbank

Zimmerreisen: Ungestört in fremden Wohnungen stöbern

von Victoria Scherff 9. Januar 2019

Verreisen, ohne die eigene Stadt, gar den eigenen Bezirk zu verlassen – sogenannte Zimmerreisen machen es möglich. Ein Selbstversuch.


„Durch einen Zufall erhältst Du einen Blick in den privaten Raum eines Fremden. Deine Neugier ist geweckt. Aber leider schließt sich die Tür schon wieder. Kennst Du diesen Impuls? Interessierst Du Dich für das Wohnen als ästhetische Praxis? Und wäre es für Dich ebenfalls interessant, reflektiert zu bekommen, wie Fremde Deine eigenen Zimmer erleben?“ Fremder Leute Wohnungen in aller Ruhe ungestört besichtigen und dort gemütlich einen Tee trinken? Ein Traum! Die Anzeige für eine „Zimmerreise“ in einem Berlin-Newsletter weckte sofort mein Interesse.

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Fremde Zimmer erleben

Hinter dem Reisen der etwas anderen Art steht der kulturgymnastik e.V. aus Prenzlauer Berg, ein offenes Netzwerk aus KünstlerInnen unterschiedlicher Sparten. Beim Info-Treffen Ende 2018 in der Nähe vom Mauerpark erklärte Organisatorin Stefie Steden die Idee der Zimmerreisen. So sollen die beiden Erfahrungshorizonte des Gast-Seins und des Gastgeber-Seins zum Tausch angeboten werden. Kostenlos, aus der Freude am Reisen.

Jede Zimmerreise wird individuell organisiert und soll ungefähr zwei Stunden dauern: Ob mit oder ohne Bewohner, ob bestimmte Schubladen oder Fotos tabu sind – das kann der Gastgeber selbst bestimmen. Es gehe darum, fremde Zimmer und sich selbst als Gastgeber gegenüber einem Fremden zu erleben, erklärt Steden. Seit 2016 organisiert die bildende Künstlerin Zimmerreisen in Berlin.

Beim Gruppentreffen der reinen Frauenrunde lauschten wir den Berichten der bereits „Gereisten“, schauten uns Reise-Fotos – also Fotos der Wohnungen – an und lernten unsere zukünftigen Reisepartnerinnen kennen. Am Ende des Treffens wird per Los bestimmt, wer innerhalb der nächsten vier Wochen in welche Wohnung und in welchen Bezirk fährt.

Zimmerreise Hausschuhe
Die fremden und die eigenen Schuhe

Zimmerreisen: „Ein Sesam öffne dich des Alltags“

In seinem Buch „Reisender Stillstand: Eine kleine Geschichte des Reisens im und um das Zimmer herum“ beschreibt der Literaturwissenschaftler und Philosoph Bernd Stiegler die Zimmerreise als „ein »Sesam öffne dich« des Alltags, der sich mit einem Mal anders auf- und erschließt“. Er meint damit aber vor allem das Erkunden und Beschreiben der eigenen vier Wände. Zimmerreisen also, ohne das Haus zu verlassen!

Ich aber begebe mich zumindest ein paar Straßenzüge weiter und trete an einem tristen Dezembernachmittag meine Reise in Prenzlauer Berg an. Statt in die Bahn oder den Flieger zu steigen, schwinge ich mich lediglich auf mein Fahrrad – und bin innerhalb von zehn Minuten am Urlaubsziel angekommen. Meine Gastgeberin Nele drückte mir ihren Wohnungsschlüssel in die Hand und verabschiedete sich.

Wie fühlt es sich an, in einer völlig fremden Wohnung zu stehen? Wer schon einmal auf Reisen privat untergekommen ist, dem ist die Zimmerreise vielleicht gar nicht so fremd. Hier aber nehme ich mir bewusst Zeit, den Raum zu erforschen, wahrzunehmen und vielleicht auch zu deuten. Schließlich ist jede Wohnung auch ein Porträt des dort lebenden Menschen.

Zimmerreise Tisch
Zimmerreise: Alltägliches mit neuen Augen betrachten

Ein bisschen wie ein Eindringling komme ich mir dann aber doch vor, als ich Neles Wohnungstür aufschließe und mir der für jede Wohnung ganz eigene Geruch in die Nasenlöcher strömt. Ich lege meine Sachen ab und begutachte erst einmal alle Räume. Am Balkonfenster der gemütlichen Einraumwohnung bleibe ich stehen und schaue in den Innenhof: „Wie es wohl ist, hier zu wohnen?“, frage ich mich und für ein paar Augenblicke stelle ich mir mein Leben hier in dieser Wohnung vor. Wie es sich anfühlt, am Wochenende dort aufzuwachen, im Sommer auf dem Balkon zu sitzen oder die Treppen mit meinen Einkäufen in der Hand hinaufzusteigen.

Stille und ungewohnte Umgebung

In den Küchenregalen suche ich nach einem Teebeutel und während das Wasser kocht, bleibe ich vor dem Bücherregal stehen und studiere die Buchrückseiten. Mit dem Tee in der Hand mache ich es mir auf dem Sofa meiner Gastgeberin bequem und greife zu einer Zeitschrift auf dem Tisch. Doch die Stille und die ungewohnte Umgebung lassen mich nicht still sitzen. Eine andere Position muss her: Auf dem Boden liegend betrachte ich den Raum und lasse meine Gedanken schweifen. Zimmerreisen – eine Zeit der Einkehr und der Meditation?

Nach ungefähr eine Stunde klingelt es, ich öffne meiner Gastgeberin die Tür – muss sich komisch anfühlen, an der eigenen Tür zu klingeln und jemand Fremdes öffnet. Bei Kaffee und Süßem sitzen wir auf der Couch und ich erzähle, wie ich die Zimmerreise wahrgenommen habe und zeige die Fotos, die ich in der Wohnung gemacht habe.

Reisen ohne zu reisen

Ein paar Wochen später bekomme ich dann selbst Reise-Besuch – das muss nicht unbedingt die Person sein, die man selbst besucht hat, kann es aber sein. Nele besucht mich an einem grauen Dezembersonntag. Ich verlasse geschwind die Wohnung und lasse sie allein. Ein unwohles Gefühl, jemand fast fremdes in meiner Wohnung allein zu lassen, habe ich nicht. Nach ungefähr einer Stunde komme ich wieder und trinke mit Nele noch einen Tee.

Vier Wochen nach dem ersten Treffen, kommen die Zimmerreisenden wieder zusammen und tauschen sich über ihre Erfahrungen aus. Ich zeige Fotos, die ich in und von Neles Wohnung gemacht habe. Andere haben sich zeichnerisch bei ihrer Reise inspirieren lassen – und es gibt neue Reiseinteressierte, deren Wohnungen man in der nächsten Runde besichtigen kann.

„Reisen in die nahe Ferne und die ferne Nähe. Reisen ohne zu reisen“, so beschreibt Philosoph Stiegler das Zimmerreisen. Eines ist das Zimmerreisen definitiv: Die wohl nachhaltigste Reiseform, bei der man die eigenen vier Wände verlässt und Neues erlebt.

Mehr Infos zu den Zimmerreisen gibt es bei der AG Minimales Reisen, das nächste Treffen findet am 31. Januar 2019 statt.

Fotos: Victoria Scherff

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