Als die Mauer fiel, war ich drei. Mein Vater hingegen fast so alt wie ich jetzt. Ich habe keine Erinnerungen an diesen Tag, er viele. Also habe ich ihn gefragt: Wie war das damals, als die Welt plötzlich eine ganz andere wurde?
Wir wohnen ja seit 1988 in unserer Wohnung in Prenzlauer Berg, haben also „Wende“ und Mauerfall hier aus nächster Nähe miterlebt. Am 9. November 1989 waren Deine Mutter und ich schon auf dem Weg ins Bett, guckten aber doch noch abends um halb elf im Westfernsehen die Tagesthemen; es konnte ja sein, dass doch noch was Aufregendes passiert war, so wie in den letzten Wochen und Monaten eigentlich täglich. Wir standen alle unter dem Eindruck der rasanten Veränderungen der jüngsten Zeit. Das größte Ereignis der letzten Tage war für uns die große Demo auf dem Alexanderplatz fünf Tage zuvor gewesen: Mit einem Mal hatten die Leute keine Angst mehr, Bedrückung und Enge waren wie weggeblasen, Menschen, die sich bisher ihr ganzes Leben lang geduckt hatten, hatten sich plötzlich herausgetraut, gesammelte Kreativität und Fantasie hatte sich in den mitgebrachten Plakaten gezeigt, die graue Einheitsfarbe der muffigen DDR war einer nie geahnten Buntheit gewichen. Und Stefan Heym hatte dafür die prägende Formel gefunden, als er seine Rede mit den Worten begann: „Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen“.
Wir guckten also die Nachrichten und sahen Schabowski stottern – das folgenreichste Stottern der jüngsten Geschichte, wie sich herausstellte. Es kamen dann Bilder von Menschenmassen, die sich vor der noch geschlossenen Grenze an der Bornholmer Brücke drängten. Das war ja nun nicht weit weg von uns, und so zogen wir uns rasch wieder an, klingelten aufgeregt bei unseren Nachbarn, erzählten, was wir gesehen hatten und fragten, ob wir nicht zusammen hin wollten. Die beiden waren sofort Feuer und Flamme, und wir brachen mit noch einer weiteren Nachbarin zu fünft auf. Wir hatten es zwar bezeichnenderweise jahrelang so in Erinnerung, dass der Mann des Nachbar-Paares wegen Euch und der eigenen Kinder zu Haus geblieben sei. Aber wie die Nachbarn uns nun versichern, stimmt das nicht. Dass wir Euch offenbar allein gelassen haben, ist mir etwas peinlich; ich hoffe zu unseren Gunsten, wir haben Deiner Schwester, die damals ja schon elf war, wenigstens einen Zettel hingelegt.
So aufregend war die Osloer Straße nicht
Wir quetschten uns also in unseren Trabbi und fuhren zur Bornholmer Straße, parkten kurz nach der Ecke Schönhauser (das ging damals noch ohne langes Suchen) und liefen vor zur Bornholmer Brücke. Da erlebten wir nun also mit, was inzwischen hundertfach beschrieben worden ist, und es ist ein komisches Gefühl, dass das, was für uns Leben war, inzwischen zur immer wieder beschriebenen und gezeigten Geschichte geronnen ist: Es hatten sich Hunderte von Leuten eingefunden, die laut forderten, rübergelassen zu werden. Die Grenzer waren ratlos, entschlossen sich aber schließlich, die Grenze aufzumachen und alle ohne Kontrolle passieren zu lassen, weil der Andrang so groß war, dass sich nichts mehr reglementieren ließ. Und so waren wir Teil der Menge, die mit dem ersten Schwung ungehindert in den Westen kam.
Wir liefen die Osloer Straße vor. Als so besonders aufregend erwies sich diese Straße zwar nicht, und unser Versuch, eine Flasche Sekt zu kaufen, scheiterte am mangelnden Westgeld. Aber es waren unzählige Leute unterwegs, und alle waren völlig außer sich vor Begeisterung. Eure Generation, für die offene Grenzen eine Selbstverständlichkeit sind, kann dieses Gefühl von „es ist nicht zu fassen“, das wir damals alle hatten, wahrscheinlich nicht recht nachvollziehen. Aber so war es. Jahrelanger Gefühlsstau löste sich nun auf. Die restriktive DDR-Politik war ja nicht nur verbrecherisch, sondern auch dumm. Denn die ständige Agitation gegen „den Westen“ war völlig witzlos, wenn man gleichzeitig die Angst davor vermittelte, die Leute könnten beim eigenen Nachprüfen zu anderen Ergebnissen kommen. So wurde „der Westen“ im Gegenteil für die meisten im Osten zu einer Art Mythos und Gelobtem Land (womit spätere Enttäuschungen vorprogrammiert waren). Denn Unerfüllbarkeit ist ja nicht unbedingt das geeignete Mittel, eine Sehnsucht zu stillen.
Mit der Straßenbahn nach Wedding – noch immer etwas besonderes
An diesem Abend waren wir nach drei Stunden wieder zu Haus. Ihr beide habt selig geschlafen. In den nächsten Tagen und Wochen aber eroberten wir uns sukzessive Westberlin, auch gemeinsam mit Euch beiden, fuhren immer wieder rüber, lernten die pralle Buntheit dort kennen, den Ku’damm, die Philharmonie, das Schloss Charlottenburg, besuchten Freunde in Wilmersdorf, Spandau, Zehlendorf etc., die wir bisher nur in Ostberlin hatten treffen können, und erfuhren: Nichts währt ewig, auch nicht die monströse Mauer, die es gegeben hatte, seit wir denken konnten.
In der Nacht vom 10. auf den 11. November lernte Deine Mutter mit einer Freundin in einer Kneipe in Charlottenburg einen rheinland-pfälzischen CDU-Politiker kennen, mit dem sie die halbe Nacht tranken und diskutierten (in dieser Nacht bin ich aber wirklich zu Haus bei Euch geblieben!). Die Diskrepanz zwischen bürgerrechtlichem Moralismus Ost und demokratischer Realpolitik West führte zu heißen Diskussionen, war aber offenbar für beide Seiten hochinteressant. Der Kontakt zu diesem Mann, den ich später auch kennenlernte und den wir ein paarmal in der Pfalz besuchten, war für uns eine echte Bereicherung und hielt sich, trotz ziemlich unterschiedlicher politischer Überzeugungen, einige Jahre.
Befreiung – das Wort ist pathetisch, aber nur damit kann man beschreiben, was wir im Herbst 1989 erlebt haben, einer Zeit der Utopie, politisch gesehen der glücklichsten meines Lebens. Und bis heute kann ich mich, wenn ich über den Potsdamer Platz gehe oder mit der Straßenbahn von Prenzlauer Berg nach Wedding fahre, nicht daran gewöhnen, dass das eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist.
Kilian Nauhaus wurde 1960 in Halle/Saale geboren.