Porträt 60 Jahre im Kiez Ernst Kühn Prenzlauer Berg Geschichte Mieter Kiez

Sechs Jahrzehnte in Prenzlauer Berg

von Victoria Scherff 23. Oktober 2018

Als Ernst Kühn 1955 nach Prenzlauer Berg zog, kam noch der Kohlenhändler, es gab Lebensmittelkarten und man trug sich ins Hausbuch ein. Auch 2018 steht für ihn fest: „Ich fühle mich wohl hier.“


„Mit 21 bin ick hier herjezogen, jetzt werde ich 85 – das ist schon eine schöne Zeit“, sagt Ernst Kühn im breiten Berliner Dialekt. Er sitzt in seinem Wohnzimmer auf der Kante des Ohrensessels, die Hände sind sorgfältig gefaltet, das Hörgerät ist eingeschaltet, ein leichtes Lächeln liegt auf den Lippen. Von seinem Balkon aus blickt man in den nahegelegenen Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark, am Horizont ist der Fernsehturm: Prenzlauer Berg in bester Lage.

Kühn ist der älteste und längste Mieter in seinem Haus im Gleimviertel. Aufgewachsen ist er in Lindow, in der Nähe von Neuruppin. Mitte der 50er Jahre zog Kühn in seine heutige Wohnung. Es war eine Zeit, als die Mieten noch 60 Ost-Mark kosteten. Eine Zeit, als Prenzlauer Berg ein Arbeiterbezirk war: Kleine Betriebe, Kohlenhändler und Schlossereien prägten das Straßenbild. „Das hat sich alles ergänzt“, sagt Kühn. Als er nach Prenzlauer Berg zog, gab es noch Lebensmittelkarten. So bekam man Fett, Fleisch und Zucker in rationierten Mengen zugeteilt. Büroangestellte bekamen weniger als schwer arbeitende Personen.
Im Hausbuch wurde festgehalten, welcher Arbeit die Bewohner nachgehen. Wenn es kalt war, musste man die Kohle aus dem Keller holen und damit jedes Zimmer beheizen. „Das hat auch jung gehalten“, scherzt Kühn. Im Dachstuhl waren Waschküche und Trockenboden. Die Hausbewohner haben von Hand gewaschen, bis es die ersten Waschmaschinen gab.

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Früher Fleischerei, heute Kindergarten

Im Laufe der  Zeit hat Kühn viele Nachbarn ein- und ausziehen sehen und den Wechsel der Geschäfte in seiner Nachbarschaft beobachtet. Wie lebte es sich vor über 60 Jahren in Prenzlauer Berg? „Man kannte sich im Kiez, es gab viele kleine Geschäfte, unten im Haus war eine Wäschemangel“, erinnert sich Kühn. Viele Künstler wohnten im Kiez, man sagte sich „Hallo“.

Seine Straße – die Cantianstraße – war „inoffizielles Grenzgebiet“; am Falkplatz begann dann die richtige Grenzzone. Sein Auto ließ Kühn offen auf der Straße stehen. In der DDR sei jeder auf den anderen angewiesen gewesen, man habe sich gegenseitig geholfen. „Das hat zusammengehalten“, sagt Kühn. Dass die Ost- und Westrenten immer noch nicht angeglichen sind, versteht er nicht. „Warum diese Unterschiede, auch nach 30 Jahren noch?“

Ernst Kühn blickt von seinem Balkon

Ernst Kühn blickt von seinem Balkon (Foto: Victoria Scherff)

Außer dem Lebensmittelladen an der Ecke zur Gleimstraße, heute ein Edeka, sind inzwischen alle Läden weg. Wo früher Drogerie, Fleischerei und Milchladen waren, sind heute Kneipe und Kindergarten. „Auch die Betriebe in den Hinterhöfen sind mehr oder weniger alle verschwunden“, stellt Kühn fest.

Die Schönhauser Allee war damals eine Geschäftsstraße, es gab weniger Restaurants und dafür mehr Einzelhandel. „Wo jetzt die Arkaden sind, waren früher kleine Handwerksbetriebe und Wäschereien“, sagt Kühn. Mit der Eröffnung des Einkaufszentrums am S-Bahnhof im Jahr 1999 habe sich der Verkauf zentralisiert.

Seit 63 Jahren in der gleichen Wohnung

Kühn lacht und scherzt viel, wenn er erzählt – das verleiht ihm eine junge und muntere Ausstrahlung, trotz seiner 85 Lebensjahre. „Ich koche alles selbst, seit Neuestem backe ich auch“, lacht er. Auf einem Auge ist er blind, das andere hat noch 30 Prozent Sehkraft. Als das Lesen immer anstrengender wurde, besorgte sich Kühn eine technische Lesehilfe; die Kasse zahlte. „Damit kann ich sogar das Kleingedruckte in Verträgen wieder lesen“, erzählt er begeistert.

Kühn hat viel erlebt: als Kleinkind das Ende des Zweiten Weltkrieges, dann die DDR und schließlich den Mauerfall. Eigentlich wollte er Bäcker-Konditor lernen. Aber dann hat er mit 14 Jahren als Gleisarbeiter angefangen. „Ich habe mir die schwerste Arbeit ausgesucht, die es gab.“

Ein Bild aus vergangenen Tagen: Ernst Kühn mit Mitte 50

Ein Bild aus vergangenen Tagen: Ernst Kühn mit Mitte 50 (Foto: Victoria Scherff)

Das nahe gelegene Berlin war sein nächstes Ziel. Doch wer damals nach Berlin wollte, musste eine Arbeit und eine Wohnung nachweisen, beides hatte Kühn nicht. Er kam zunächst beim Bruder unter und fing an, auf dem Bau zu arbeiten. Später arbeitete er in einem Hotel als Hausdiener, wo er seine spätere Frau kennenlernte. Kühn war 20, sie 45, Kriegswitwe und hatte vier Kinder. „Das war damals ein Einzelfall“, schmunzelt Kühn über den Altersunterschied. Er zog zu ihr in die Wohnung in Prenzlauer Berg, in der er seit nun 63 Jahren wohnt.

Die Wochenenden verbrachten er und seine Frau in ihrem gepachteten Garten in Teltow. „Im Stadion war meistens auch was los“, sagt er. Seine Frau hat dort für die Sportler und Fußballer gekocht. Urlaub haben die beiden wenig gemacht, „wir hatten ja den Garten, das hat gereicht.“ Manchmal sind sie mit dem Trabi rausgefahren. Im weiten Bogen um Berlin herum, denn quer durch die Mitte und Westberlin war damals unmöglich. 1995 hat Kühn den Garten abgegeben, im gleichen Jahr starb auch seine Frau. Der Eigentümer wollte mehr Pacht, „das hätte ick auch alleine nicht halten können“. Ein paar Jahre lang hat Kühn ältere Leute ehrenamtlich betreut. Hat sie zum Einkaufen gefahren oder „wenn sie mal nach’m Wannsee wollten“. Spaß gemacht habe das.

„Ich fühl mich wohl hier“

Über 30 Jahre hat Kühn in einer Berliner Bier-Brauerei in Schöneweide gearbeitet: Kraftfahrer, Schichtleiter, Einkäufer. „Allen möglichen Kram“, sagt er. Mit der Wende war das vorbei:  Wie so viele Ost-Betriebe wurde auch seine Brauerei dicht gemacht. Also ging Kühn mit 58 Jahren in den Vorruhestand. Mit seiner Abfindung hat Kühn die Ofenheizung seiner Wohnung durch eine modernere Anlage ersetzt. „Dadurch konnte ich die Wohnung halten“, eine Mieterhöhung fiel durch die Eigenmaßnahme nicht so hoch aus. Heute zahlt der Rentner für seine knapp 75 Quadratmeter 420 Euro warm, „die Nachbarn zahlen alle schon über 1000 Euro. Das muss man auch erstmal verdienen“, sagt er. Jetzt könne sich keiner mehr die Wohnungen leisten, „da war es ja am Ku’damm eine Zeit lang noch günstiger“, stellt Kühn fest.

Sein Haus ist ein paar Mal verkauft worden. Vor drei Jahren sind sie das erste Mal auf ihn zugekommen: Modernisierung hieß es. Ein großes Waschbecken und ein Handtuchhalter sollten ins Bad. „Sie haben mir nahe gelegt, dann auszuziehen“, erzählt Kühn. Zwei Männer kamen unangekündigt und wollten ihn überzeugen. „Ich brauch so was alles nicht!“, entgegnete Kühn. Seitdem ist Ruhe.

Jeden Tag geht Kühn hinunter, sei es zum Einkaufen oder zum Arzt. Das letzte Mal wegen einer Grippeschutzimpfung. Manchmal fährt er nach Pankow zum Markt oder geht zum Trödelmarkt in den Mauerpark. „Ich fühle mich wohl hier“, sagt er.

Titelfoto: Nay Aoun

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