„Güvenmek heißt Vertrauen“

von Constanze Nauhaus 26. Oktober 2017

Freiheit für Peter Steudtner: Der Prenzlauer Berger Menschenrechtler ist aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Seit Donnerstagabend ist Steudtner wieder zu Hause. (Update)


 

Peter Steudtner ist wieder zu Hause. Nach Prozessbeginn am Mittwoch wurde am Abend überraschend bekannt, dass Steudtner aus der Untersuchungshaft entlassen wird – ohne Auflagen. Am Donnerstagmorgen kam er gegen Kaution frei und reiste noch am selben Tag zurück nach Berlin. Die Gethsemanegemeinde, die während seiner Haft allabendlich für Steudtner und die anderen unschuldig in der Türkei Inhaftierten gebetet hatten, empfing ihn mit klaren Worten: Herzlich willkommen!

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ARTIKEL vom 13. Oktober 2017:

#100TageZuviel. Der Hashtag, der dieser Tage bei Twitter kursiert, könnte kompakter nicht zusammenfassen, was in der Türkei gerade passiert. Am 5. Juli wurde der Fotograf, Dokumentarfilmer und Schulungsleiter aus Prenzlauer Berg Peter Steudtner gemeinsam mit neun weiteren Menschenrechtlern bei einem Seminar auf der Istanbul vorgelagerten Insel Büyükada festgenommen. Er befindet sich in Untersuchungshaft im Gefängnis Silivri – derselben Haftanstalt, in der auch der deutsch-türkische „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel inhaftiert ist.

Es gibt Hoffnung

Nun keimt Hoffnung auf. Unerwartet kündigte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu am Wochenende in einem „Spiegel“-Interview an, sich für eine Beschleunigung von Steudtners Verfahren einzusetzen. Einen Tag später, am Sonntag, lag dann die Anklageschrift vor, die den Menschenrechtler der Unterstützung und Mitgliedschaft in einer Terrororganisation beschuldigt. Sie wirke „eilig zusammengeschustert“, sagte Steudtners Anwalt Murat Boduroglu „Spiegel Online“. Sie sei voller Rechtschreib- und Grammatikfehler. „Es ist Wahnsinn, einem Beschuldigten auf dieser Grundlage den Prozess zu machen.“

Egal, wie absurd und an den Haaren herbeigezogen die Anklage sein mag: Der Umstand, dass sie vorliegt, bedeutet auch die baldige Eröffnung des Verfahrens. Dass es vorangeht, dass etwas passiert. Denn aus der Untersuchungshaft sei von den aktuell Inhaftierten noch niemand entlassen worden, gab die Pfarrerin Almut Bellmann in einem „Tagesspiegel“-Interview zu bedenken. Sie steht der Gemeinde Prenzlauer Berg Nord in der Gethsemanekirche vor, die jeden Abend Fürbitte für ihr Gemeindemitglied Peter Steudtner hält.

Briefe aus der Haft

Doch wie geht Peter Steudtner selbst mit der Situation um? Die „Kurve Wustrow“, eine kleine wendländische Friedensorganisation, für die auch Steudtner arbeitet, veröffentlicht regelmäßig Briefe des Inhaftierten, die er über seine Anwälte, den deutschen Botschafter und das Konsulat an Freunde und Unterstützer schickt. Vier solcher Briefe liegen bislang vor. Wir haben sie gelesen.

 

 

Jeden Abend 18 Uhr Berliner Zeit sitze ich parallel mit den FreundInnen in der Gethsemanekirche und singe laut im Hof! Das tut mir sooo gut! Und meine Zellennachbarn kennen die Lieder auch schon!

schreibt Peter Steudtner am 31. August. Seit der Gemeinde bekannt sei, dass er von ihren täglichen Andachten wisse, sei dieser „Kraftakt“ viel besser zu stemmen, sagte Pfarrerin Bellmann im „Tagesspiegel“-Interview.

Steudtners Briefe, das wird mit fortschreitender Lektüre immer deutlicher, sind von einem durch und durch überzeugten, zuversichtlichen Menschenrechtler und Menschenfreund verfasst.
Wichtig ist mir, dass die politischen juristisch Verantwortlichen für unsere Situation nicht gleich dem Land Türkei und seinen Menschen gesetzt werden. Wir erleben viel Solidarität, nicht nur durch unser türkisches Legal-Team hier und ich durch den interreligiösen Dialog, den ich täglich mit meinem muslimischen Mitbewohner lebe.
Steudtner sitzt nach eigenen Angaben in einer Dreierzelle ein, unter anderem mit einem jungen türkischen Mann, von dem er momentan Türkisch lernt. „Özlemek heißt Vermissen – Güvenmek heißt Vertrauen“, gibt Steudtner sein Sprachwissen zum Besten. Mit seinem Mithäftling spiele er Schach und Backgammon – „selbst gebastelt“. Sie hätten einen eigenen 28 Quadratmeter großen Innenhof, in dem er sogar eine gute Hälfte des Berlin-Marathons mitgelaufen sei – „1500 Runden, drei Stunden lang“. Und neben einer in dieser Situation erstaunlichen Power scheint ihn selbst der Humor nicht verlassen zu haben:
Und abends dann weiter spielen und reden, Tagebuch schreiben und natürlich progressive Muskelentspannung morgens und spät abends, damit ich keinen Zellenkoller bekomme und der Stress ob der Ungewissheit nicht überhand nimmt. Ansonsten hilft nur Mücken jagen!
Und schreiben. Derzeit arbeite er an einem Trainingshandbuch zur Gewaltfreiheit für die Kurve Wustrow. Die Beamten gingen „zumeist respektvoll und freundlich“ mit ihnen um, schreibt er weiter. Das Essen sei gut und ausreichend, auch Bücher bekämen sie über die Anwälte und das Konsulat.
So kann ich sagen, dass es mir außen und zumeist auch innen gut geht. Das ist jedoch auch harte Arbeit, unsere Verhaftung verstößt klar gegen internationale Menschenrechte.
Yoga und TaiChi würden ihm helfen, die Situation zu ertragen. Auch die extrem eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten. Mit seinen Anwälten könne er einmal in der Woche für eine Stunde telefonieren, mit seiner Familie hingegen nur alle zwei Wochen für zehn Minuten.

Ermutigende Worte für seine Unterstützer findet er trotzdem, um jede Mutlosigkeit, jede Resignation im Keim ersticken:

 

Wenn Ihr Euch fragt, ob die kleinen Schritte, Gedanken, Aktionen Sinn machen? … Denkt an die Mücke: soo klein, oft allein und sooo ein großer Unterschied durch ihre Anwesenheit!

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