In der Schivelbeiner Straße kann man jetzt die Gebärdensprache lernen: Wir haben Benedikt und Mathias, die Gründer von yomma in ihrem neuen beruflichen Zuhause besucht.
Wie gebärdet man eigentlich das Wort „Brexit“? Mit solchen und ähnlichen Fragen beschäftigen sich Mathias Schäfer und Benedikt Sequeira Gerardo in ihrer gemeinsamen Firma yomma. Im April ist das Unternehmen vom Wedding in die Schivelbeiner Straße 27 gezogen. Prenzlauer Berg war der Wunschstadtteil für die beiden. „Ich fühle mich sehr mit Prenzlauer Berg verbunden“, sagt Mathias. „Ich lebe mit meiner Familie nur zehn Minuten mit dem Fahrrad entfernt von hier in Pankow. Und mein Liebslingsbäcker Siebert ist gleich hier um die Ecke.“ In Prenzlauer Berg gebe es außerdem eine lebhafte Gehörlosenszene, „beispielsweise den Förderverein für Gehörlose in der Kulturbrauerei“, sagt Benedikt.
Das Unternehmen wurde im Jahr 2013 gegründet und umfasst viele Bereiche der Gehörlosenarbeit. Das liegt daran, dass die beiden Gründer ihre unterschiedlichen Tätigkeitsfelder zusammengeworfen haben: Mathias ist seit 19 Jahren Gebärdensprachlehrer und hat schon ganze Bücher in die Gebärdensprache übersetzt. Benedikt ist Fotograf und Graphikdesigner und interessiert sich leidenschaftlich für visuelle Gestaltung. Neben der Sprachschule ist yomma deshalb auch eine Produktionsfirma: Im eigenen Filmstudio werden Übersetzungsvideos in Gebärdensprache produziert. Erst kürzlich hat der 30-jährige Benedikt das Programm der Berliner SPD für die Abgeordnetenhauswahl auf Video übersetzt. Auch einen eigenen Dokumentarfilm über die Berliner Mauer hat yomma schon produziert.
Keine Lärmbeschwerden von den Nachbarn
Nach zwei Umzügen haben Mathias und Benedikt in der Schivelbeiner Straße den idealen Standort gefunden. Hier haben sie genug Platz für Unterrichtsraum, Büro und Filmstudio und fühlen sich in der Umgebung wohl. „Früher war in den Räumen hier eine Bar mit Livemusik“, sagt Benedikt. „Da gab es Probleme mit den Nachbarn, sie störte die Geräuschkulisse. Mit uns wird das wohl kein Problem werden, wir Gehörlosen machen ja keinen Lärm.“
Sowohl Benedikt als auch Mathias sind schon von Geburt an taub, Benedikt sogar schon in dritter Generation. Die Wörter „taub“ und „gehörlos“ können übrigens gleichwertig benutzt werden. „Was gar nicht geht, ist der Ausdruck taubstumm“, sagt Benedikt. „Wir sind ja nicht stumm, wir haben eine Sprache und drücken uns aus.“ Der Ausdruck gehörlos sei im Sprachgebrauch gängiger, sagt Mathias. „Wir beiden bevorzugen aber das Wort taub. Gehörlos klingt irgendwie so nach Defizit. Wir haben aber ein ganz normales Leben und fühlen uns nicht so, als ob uns etwas fehlt.“
Mathias und Benedikt verbindet die Leidenschaft fürs Theaterspielen. „Unser großer Traum ist ein inklusives Theaterhaus, wo hörende und taube Menschen sich gemeinsam künstlerisch ausdrücken“, sagt der 39-jährige. Leider sei das Theater aber eher eine brotlose Kunst, deswegen widmet sich yomma jetzt erstmal den wirtschaftlicheren Tätigkeitsfeldern wie Unterricht und Übersetzung. „Den Traum vom Theater haben wir aber nicht aufgegeben“, sagt Mathias. „Ich würde mir wünschen, dass einige unserer Schüler auch beim Theaterspielen mitwirken.“
Mimiktraining für Schauspieler
In unterschiedlichen Kursangebote kann man bei yomma die deutsche Gebärdensprache lernen: Gruppenkurse, die ein- bis dreimal die Woche stattfinden, einwöchige Intensivkurse, Wochenendkurse oder externe Firmenkurse für hörende Mitarbeiter mit gehörlosen Kollegen. Auch Einzelkurse sind möglich. „Besonders Schauspieler nehmen oft Einzelunterricht bei uns“, sagt Mathias. „Sie können damit ihre Gestik und Mimik trainieren, für uns ist es ja völlig selbstverständlich, uns darüber auszudrücken.“ Tatsächlich ist es beeindruckend, wie ausdrucksstark die Gebärdensprache auch für ungeschulte Augen wirkt. Wie Mathias erklärt, setzt sie sich aus manuellen und nicht-manuellen Zeichen zusammen, die beim Sprechen kombiniert werden. Bei den manuellen Zeichen gibt es wiederum drei Kategorien: zum Einen 37 verschiedene Handformen, die feste Bedeutungen haben. Außerdem kommt es auf die Handbewegung an, also ob eine Form gerade oder geschwungen, vertikal oder horizontal gebärdet wird. Auch die Handhöhe spielt eine Rolle: Ein Zeichen auf Stirnhöhe kann etwas anderes bedeuten, als wenn dieselbe Handform auf Körperhöhe gezeigt wird. Zu den nicht-manuellen Zeichen zählen der Kopf, die Schultern, der Oberkörper und die Mundbewegung.
Um die Gebärdensprache zu lernen, braucht man ungefähr solange wie für eine andere Fremdsprache auch: 200 Stunden bis zum Anfängerniveau A2 im europäischen Referenzrahmen und dann jeweils nochmal 200 Stunden für die mittleren Niveaustufen B1 und B2. „Um das Fortgeschrittenenniveau C1 zu erreichen, muss man als Hörender schon viel Kontakt zu Gehörlosen haben, zum Beispiel Freunde, oder noch besser einen Partner“, sagt Mathias.
Bei yomma gibt es immer wieder auch kostenlose Schnupperkurse in Gebärdensprache. Richtige Profis können stattdessen Gebärdensprachpoesie lernen. Den künstlerischen Ausdrucksformen sind also keine Grenzen gesetzt, was den kreativen Anspruch der beiden yomma-Gründer nochmal deutlicher macht. Die vielfältige Kulturszene von Prenzlauer Berg wird das Unternehmen mit Sicherheit bereichern. Einen Vorschlag, wie man das Wort „Brexit“ am besten gebärdet, findet Ihr übrigens hier.
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