Manfred Kristen war zur Wende Grenzpolizist in Prenzlauer Berg, am 9. November stand er in Uniform auf der Bornholmer Brücke. Nur einmal war er seitdem im ehemaligen West-Berlin. Teil zwei unserer Serie zum 25. Jahrestag des Mauerfalls.
Als Manfred Kristen sich einst wünschte, in die weite Welt zu gehen, da ging er einen Kompromiss ein und hütete die Grenze zu West-Berlin. Kristen erzählt diesen Baustein seiner Biografie mit einer Beiläufigkeit, die ihm angebracht erscheint, schließlich geht es um einen alten Traum, der halt nichts wurde: Zur See zu fahren. Ihm erscheint das nicht weiter erwähnenswert, und vielleicht sieht er die Pointe wirklich nicht. Der alte Grenzpolizist wollte früher alle Grenzen hinter sich lassen. Nur kam es halt anders. Manfred Kristen machte eine ordentliche Karriere bei der Polizei, eine, in der er nur einmal einen Jugendlichen niederschlagen musste, wie er berichten wird, und eine, die da endete, wo aus Sicht so vieler alles begann: Am 9. November 1989, am Grenzübergang Bornholmer Straße. Kristen ist 72 Jahre alt, gerade liegt seine Frau auf einer Sterbestation, und er will darüber berichten, wie er sie sieht, die viel gepriesene Wendezeit. Und den Westen, den er hasst.
Was waren das für Menschen, die die Mauer beschützten, taten sie es widerwillig, und, vor allem, wie fühlte sich für sie die Wende an? Die Frage zu beantworten ist leicht, sollte man denken, denn Grenzpolizisten gab es in Scharen, auch in Prenzlauer Berg, und die meisten sind nun im besten Rentenalter oder jünger. Sie sind nach wie vor organisiert, veranstalten regelmäßige Treffen. Doch mit Journalisten reden, das fällt den meisten schwer, sei es aus Enttäuschung oder Misstrauen, meistens einer Mischung aus allem. Ein Mann im Thälmannpark wäre bereit für ein Gespräch, aber nur, wenn er die komplette deutsche Geschichte seit 1914 aus seiner Sicht aufschreiben darf. Das wurde nichts. Schließlich kann Hans-Jürgen Gräfe, Herausgeber des Buches „Mittendrin. Die Berliner Volkspolizei 1989/90” weiterhelfen, er vermittelt den Kontakt zu Manfred Kristen. Den ersten Termin muss dieser absagen – seiner Frau geht es an diesem Tag so schlecht, dass ungewiss ist, ob sie den nächsten noch erlebt. Eine Woche später geht es dann, die Frau liegt jetzt auf der Palliativstation, und Schwermut liegt doppelt auf dem Gespräch, das ja ein Rückblick ist. Selbst der 15 Jahre alte Hund röchelt während des Interviews bedrohlich. „Mach du jetzt kein Scheiß”, ermahnt ihn Kristen, etwas flehend.
Das Gedächtnis macht nicht mehr so mit
Manfred Kristen ist in Lichtenberg aufgewachsen, gleich nach dem Krieg kamen er und seine Familie hierher. Sein Vater war Gärtner und seine Mutter, die kannte er nur am ganzen Leib zitternd und pflegebedürftig. Eine Granate, nur wenige Meter neben ihr explodiert, richtete sie zugrunde, berichtet er. Nach der achten Klasse verließ er die Schule, machte eine Ausbildung zum Zimmermann. Danach bemühte er sich um einen Job in der Seefahrt, das wurde aber nichts, „warum, weiß ich nicht”. Was folgte, war eine wegweisende Begegnung mit der Polizei. „Ein Polizist, der für unsere Gegend zuständig war, sprach mich an. Wenn ich mich drei Jahre bei der Polizei verpflichten würde, könnte ich die 10. Klasse nachmachen und studieren.” Ein Angebot, das Kristen nicht ablehnen konnte, er hatte auch schon eine Idee fürs Studium. „Wenn Seefahrt nicht geht, dann eben Ingenieur”, das waren damals seine Gedanken. Ein paar Wochen später, Kristen war gerade 18 Jahre alt und es sollte kaum ein Jahr dauern, bis die Mauer gebaut wurde, fand sich der junge Polizist an der damals noch offenen Grenze zwischen Treptow und Kreuzberg wieder. Neun Monate war er hier stationiert, dann wurde er zum Streifenwachtmeister in Mitte befördert. Sechs Jahre machte er das.
Vielleicht auch sieben. Manfred Kristen bittet um Verzeihung, dass „es bei mir nicht mehr so hin kommt mit dem Gedächtnis”, zwei Schlaganfälle, zwei Herzinfarkte führt er als Begründung an. Die schlafwandlerische Sicherheit, mit der er anschließend die schwindelerregenden Titel seiner Polizeilaufbahn rezitiert, zeigt umso mehr, wie sehr ihn der Polizeidienst und seine gesamte Matrix in Fleisch und Sprache übergegangen ist. Zugführer der zentralen Kräfte Schutzpolizei Mitte, 67 bis 69. Offizier für Dienstanfängerausbildung, bis 71. Stellvertreter für politische Arbeit des Leiters der 1. Verkehrsbereitschaft, bis 78. In gleicher Funktion an anderer Dienststelle bis 84. Mitarbeiter des Stellvertreters für politische Arbeit der Volkspolizei-Inspektion Treptow, bis 86. Und schließlich: Stellvertreter für politische Arbeit des Leiters der Volkspolizei-Inspektion Prenzlauer Berg. „Das war eine Funktion, in der mal darauf vorbereitet wurde, selbst die politische Arbeit zu organisieren.” Dazu kam es dann nicht mehr.
„Wir waren nicht dafür zuständig, den Staat zu verteidigen”
„Operativ”, also auf der Straße, war Kirsten damals schon lange nicht mehr tätig, schon seit den frühen 70ern nicht mehr. Nachdem er ein Fernstudium an er Parteihochschule Karl-Marx mit Abschluss Diplom-Gesellschaftswissenschaftler 1984 abgeschlossen hatte, war er nun in Prenzlauer Berg dafür zuständig, dem Parteisekretär zuzuarbeiten, Politschulungen zu organisieren und Beschwerden von Bürgern entgegen zu nehmen. Diese allerdings seien sehr überschaubar gewesen, „zwei oder drei Fälle gab es da vielleicht”, so seine Erinnerung. Die Gründe dafür scheinen ihm offensichtlich. „Es gab nichts, über das man sich beschweren musste.” Manfred Kristen hatte schon immer eine klare Vorstellung über die Rolle der Polizei und seine eigene. „Für Ordnung und Sicherheit zu sorgen, nicht mehr und nicht weniger.” Was heißt das genau? „Wir waren nicht dafür zuständig, den Staat zu verteidigen. Das war das Ministerium für Staatssicherheit mit seinen Leuten.” Die Leute hätten das damals und heute immer noch nicht verstanden, beklagt er. Kristen hält inne. Steht auf, geht zur Schrankwand, holt einen Notizblock raus. Die Chronik des Tages, an dem er zum ersten Mal verstand, dass die anderen es nicht verstehen.
Der 7. Oktober 1989, fast minutiös protokolliert. Die DDR feierte an dem Tag 40. Geburtstag, oder besser gesagt, die Staatsspitze der DDR tat so. Kristen war das egal, ihm sei es an diesem Tag darum gegangen, die Prenzlauer Allee freizuhalten, für Michael Gorbatschow, der am 7. Oktober Einiges sagte, was den Weg freimachte für den Mauerfall. Vornehmlich Jugendliche, darunter einige Provokateure, so sieht es Kristen, hätten damals das Eingreifen der Polizei nötig gemacht, „die Straße musste ja frei sein”. Dass es kein alltäglicher Einsatz war, musste Kristen bewusst gewesen sein. „Es war das erste Mal, dass ich wieder operativ im Einsatz war.” Mehrere Gruppen mit jeweils hunderten Teilnehmern, erinnert er sich, mussten an diversen Schwerpunkten der Prenzlauer Allee von der Straße gedrängt werden. Zusammen mit einem Major koordinierte er Volkspolizisten und Mitglieder von Betriebskampfgruppen, im Zusammenspiel mit FDJ-Einheiten, die mittels „Räumketten” die Straßen leer hielten. Kristen selbst musste schließlich eine solche Kette aus Polizisten organisieren, um die Gethsemanekirche abzuriegeln.
In der Stargarder flogen Dachziegel
Alles Dienst nach Vorschrift, so sah es Kristen damals, so sieht er es heute. Umso mehr überraschte ihn die Stimmung, die ihm und seinen Kollegen auf der Straße entgegenschlug. „Stasi raus”, „Nazischweine”, sowas habe er sich anhören müssen „und zum ersten Mal überhaupt habe ich das Wort ‚Bullenschweine‘ gehört”. Blumentöpfe seien aus den Häusern auf die Straße geschmissen wurden, „aber nicht auf uns, sondern einfach zum Krawall machen”. Erst in Stargarder Straße seien dann auch Polizisten direkt beworfen worden, von einem Baugerüst aus, mit Dachziegeln. „Ein paar Polizisten wollten dann da hoch und die Leute runter holen. Die habe ich zurückgehalten, das war viel zu gefährlich in dieser Situation.” Später habe es noch weitere „Provokationen” gegeben, junge Frauen, die sich gegenüber ebenso jungen Polizisten entblößt hätten, „und ihnen in die Eier traten”. Kristen versteht bis heute nicht, was damals passierte. Er legt den Zettel weg. Der 7. Oktober war für ihn der einschneidendste Tag seiner Karriere. Was folgte, war nur das Nachspiel.
Fast vergisst er zu erwähnen, dass er am 9. November dann auf der Bornholmer Brücke stand. Der 9. November ist sein Hochzeitstag, dass sich damals was zusammenbraute, hätte er im Fernsehen gesehen, wenn er nicht mit seiner Frau gefeiert hätte. „Die war sauer, als ich dann angerufen wurde.” Der Parteisekretär holte ihn ab, zusammen fuhren sie zur Brücke, und da standen sie dann in der wartenden Masse, in Oberstleutnant- und Majoruniformen. Alles sei sehr friedlich gewesen, fast gelöst. „Keine Beleidigungen, keine Handgreiflichkeiten, kein Gebrülle, nüscht.” Irgendwann bewegte sich dann die Masse, aufgekratzt in Richtung Wedding, der nun wie aus dem Nichts vor ihnen lag. Ein historischer Moment. Manfred Kristen ging nach Hause.
Zwei Jahre vor dem Ruhestand kam die Wende
Die Zeit danach ist nur noch Erinnerungsbrei. Die politische Arbeit in der Polizei wird obsolet, Kristen erinnert sich noch an ein Fußballspiel zwischen einem Westberliner und einem Ostberliner Verein, das er nun plötzlich polizeilich begleiten sollte, ein paar Sitzungen am Runden Tisch im Roten Rathaus, „wo wir dann rausgekickt wurden”. Ihm sei angeboten worden, als einfacher Polizist mit guter Bezahlung in den bundesdeutschen Polizeidienst zu gehen, doch Kristen lehnte ab. Den 3. Oktober 1990 erlebte er als Arbeitsloser von 48 Jahren. Mit 50 Jahren hätte er in der DDR in den Vorruhestand gehen können.
Bei der Polizei zu bleiben, das kam für ihn nicht in Frage, und die Begründung muss man wohl einfach mal so in den Raum stellen, zu verhandeln gibt es da nichts, mit wem auch, und warum? „Unsere Polizei war immer für die Menschen da. Die Polizei der Bundesrepublik war und ist immer gegen die Menschen.” Wenn seine Leute was falsch gemacht haben, dann hätten sie sich dafür entschuldigt. „Mir wird schlecht, wenn ich sehe, wie die Polizei heute arbeitet.” Kristen ist sicher, dass ein 7. Oktober oder 9. November unter bundesrepublikanischen Umständen anders ausgegangen wäre. Schmerzhafter für die Demonstranten. Einmal, erinnert sich Kristen, hätte er in seinem Berufsleben Gewalt angewendet. Irgendwann, Mitte der 60er, auf der Oranienburger Straße. Ein Halbstarker habe Bananenschalen auf den Boden geworfen und sei ihm, dem jungen Polizisten „dumm gekommen”, als er ihn ermahnte, sie aufzuheben. Dem habe er einen verpasst, sagt Kristen und lacht. „Hätte ich das nicht gemacht, hätte der mich doch niedergeschlagen.”
Die Grenze der DDR wird geachtet
Nach der Wende arbeitete Kristen als Wachmann für verschiedene Security-Firmen, ein halbes Jahr nur war er arbeitslos. „Ich bin Realist, kein Fantast. Irgendwas musste ich ja arbeiten.” Geld kriegte er hier deutlich weniger als ihm bei der Polizei geboten wurde, das war ihm egal, sagt er. 2002, mit 60, schickte ihn seine Ärztin in Rente. Die Grenze der Deutschen Demokratischen Republik, die achtet Manfred Kristen bis heute. Ein einziges Mal sei er in den Westen gegangen, und das auch nur, weil seine Frau es so wollte, Monate nach dem Mauerfall. Wie so viele DDR-Bürger erschreckte auch Kristen in dem zwangsläufigen Augenblick, da er das erste Mal einen Bettler auf der Straße erblickte. „Wie kann es sein, dass so etwas in einem solchen reichen Land vorkommt”, fragt er, und die Antwort kennt er natürlich ganz gut, er ist ja diplomierter Marxist. Kristen hat den Westen der Stadt seitdem nicht mehr betreten, und wird es wohl auch nicht mehr tun.
Wenn sich an diesem 9. November der Mauerfall zum 25. Mal jährt, wird das Manfred Kristen nicht weiter beschäftigen. Es ist sein Hochzeitstag, er wird ihn mit seiner Frau verbringen. Er hofft das. Seine besten Jahre, die liegen hinter ihm.
Lesen Sie hier weitere Texte aus der Reihe zum 25. Jahrestag des Mauerfalls:
2. Teil: Manfred Kristen war zur Wende Polizist in Prenzlauer Berg. Die Grenze der DDR beachtet er bis heute.
Und hier erklären wir, warum es diese Reihe gibt: Warum die Wende in Prenzlauer Berg auch heute noch ein Thema ist, bei dem keineswegs nur Einigkeit herrscht.