Vorbei

von Thomas Trappe 27. August 2014

In der Kastanienallee stirbt ein Mensch, so öffentlich, wie es nur geht. Warum hilft keiner? Unser Autor sucht eine Antwort: Er ist selbst einfach weiter gegangen.

Zu sagen, dass mir sein Tod nahe geht, wäre eine gefällige Lüge. Ich lese einen einfühlsamen Bericht über den Tod des obdachlosen Punks Eugen Gint, und durchaus bin ich bewegt. Ein Reflex, nehme ich an. Aber Trauer oder etwas Ähnliches ist da nicht. Eugen Gint ist tot, und mir ist es egal. Oder eben nicht, sonst würde ich mich nicht gerade in diese Zeilen quälen. Wie kann es sein, dass Gint starb, auf offener Straße, vor allen Augen – das ist die journalistische Frage, die ich mir zunächst stellte. Und, nach kurzem Innehalten und einem ehrlichen Schreck die Erkenntnis: Ich selbst bin weitergegangen. Wenige Tage vor Gints Tod, als er reglos auf der Kastanienallee vor dem Prater lag, offenbar in gleicher Position, in der er später dort verreckte. So war es. Ich bin, im Strom der der Im-Leben-Stehenden, an ihm vorbeigezogen. Vielleicht musste ich sogar etwas den linken Fuß heben, um nicht zu stolpern. 

Eugen Gint ist tot seit dem 31. Juli, er starb laut Berliner Kurier an einer Flasche Absinth, an einem epileptischen Anfall, wer weiß das schon, und letztlich ist auch das egal. Im Kurier ist detailliert und lesenswert beschrieben, wie Gint lebte. Wie er starb. Vormittags, auf dem Bauch liegend in der Sonne, in ein paar Metern Entfernung ein befreundeter Obdachloser. Genauso erinnere ich mich an die Szene, die ich in der Kastanienallee streifte. Der Kalender vermag mich erst einmal zu beruhigen. Als ich Eugen Gint sah, gingen noch ein paar Tage ins Land, bevor er starb. Er schlief, war nicht tot. Ich verhandelte noch mit dem Freund, mit dem ich unterwegs war, diesen Grenzbereich, bevor wir berieten, wo wir jetzt ein gutes Eis essen könnten. „Eigentlich sollte man den fragen, ob alles okay ist”, sowas in der Art sagte ich, leicht genervt. Wir hielten dann aber nicht inne, gingen weiter. Es wird schon gut sein, dachten wir. Was kann man schon machen? Wir dachten das, was so viele vor uns und nach uns dachten, bis plötzlich nicht mehr Eugen, sondern Blumen vorm Prater lagen.

 

Demütigung bei der Karaoke

 

Eugen Gint war so alt wie ich, fast auf den Tag genau. Mehr Gemeinsamkeiten sehe ich nicht: Er entschied sich für ein Leben auf der Straße, ich nicht. Während er starb, holte ich gerade einen Mietwagen, um eine Insel im Atlantik zu überqueren, auf der noch ein paar abgehalfterte Hippies sich im Ausstieg wähnen und die lustig anzusehen sind. Eugen Gint trat besoffen bei der Mauerpark-Karaoke auf, zur Belustigung internationalem Publikums, ich war einer aus dem Publikum. Einmal, das fällt mir nun ein, als ich einen Youtube-Clip über Eugen Gint anschaue, sah ich ihn bei der Karaoke, hoffte, dass es bald aufhört, ich fand es demütigend. Näher als vor vier Wochen kamen Gint und ich uns nie, er am Boden, ich beim Spazieren. Jetzt trennt uns das Leben. Und ich frage mich, ob das anders sein könnte?

Würde ich dem idealen Bild meiner selbst entsprechen, wäre der Tag anders verlaufen. Ich hätte seine Kumpel angesprochen, was mit dem Mann da los sei. Dann ihn. Hätte er nicht geantwortet, hätte ich einen Rettungswagen geholt, vielleicht dem Mann auch noch etwas Geld zugesteckt. Gewartet, bis professionelle Hilfe kommt. Eugen Gint in ein Gespräch verwickelt, versucht, ihn zum Aufsetzen zu bewegen. All die Sachen, von denen ich mir ausmale, dass sie zu meinem Regelrepertoire gehören, begegne ich einem Menschen in Not. Ich handelte und dachte anders. Ich kann nicht jeden Obdachlosen ansprechen, der mir in dieser Stadt begegnet. Er wird bestimmt aggressiv, wenn ich ihn bei was auch immer störe. Er bewegt sich ja noch. Seine Freunde werden schon wissen, wenn was ist. Obdachlose hassen Krankenwagen. Und schließlich, ja tatsächlich: Der wird hier schon nicht sterben, auf offener Straße.

 

Keine Lust zu helfen

 

Ich habe mich geirrt. Nun macht mich der Tod wütend, aber auf eine andere Art, als ich es mir wünsche. Wütend werde ich auf die Stadt, darauf, dass sie mich indifferent gegenüber Elend und Not gemacht hat, jedenfalls rede ich mir diese Kausalkette zurecht. Ich erinnere mich an den blutenden Jugendlichen, der in Mitte aus einer Schlägerei heraus mit einer Glasflasche in der Hand auf mich zuläuft, als ich gerade wegen eben jener Schlägerei, die mich nichts angeht, die Polizei anrufe. Denke an den jungen Mann, der von einem Irren getreten wird, nachdem er diesen gerade noch davon abhalten konnte, vor eine einfahrende S-Bahn zu torkeln. Und an den Mann, den ich zusammen mit einem anderen Passanten davon abhalten musste, die Beine über den S-Bahn-Gleisen baumeln zu lassen. Vor Jahren, noch neu in der Stadt, dachte ich, das sind Ausnahmesituation, inzwischen weiß ich, dass man hier eigentlich ständig den Rettungsdienst rufen könnte, dauernd jemanden von irgendwas abhalten müsste. Heute nervt es mich nur noch. Riecht jemand unangenehm in der Tram und setzt sich neben mich, wechsle ich den Platz. Fängt jemand an, wirres Zeug zu reden, ebenfalls. Wird jemand aggressiv, gehe ich aus seinem Blickfeld. Ich habe keine Lust mehr, mich einzumischen, es ist mein ganz persönliches Dit-is-Berlin-Feeling. Und so habe ich auch Eugen Gint ignoriert. Das war jetzt eine Rechtfertigung, mehr nicht. Die ehrliche Version: Ich hatte keine Lust, zu helfen.

Nachdem ich Eugen Gint an diesem Sommertag hinter mir ließ, müssen noch tausende andere Passanten gefolgt sein. Viele von ihnen stellten sich wahrscheinlich die gleichen Fragen wie ich; und gingen weiter. Eine Passantin schließlich entschied anders, sie rief den Notarzt. Eugen Gint war da schon tot, ein paar Stunden später wird öffentlich um ihn getrauert und gefragt, wie so etwas passieren kann, mitten auf der Kastanienallee. Ich weiß es immer noch nicht. Ich habe nur so eine Ahnung.

 

 

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