Wer bis Jahresende sechs Jahre alt wird, der wird zum Sommer eingeschult. Viel zu früh, meinen viele Pankower Eltern. Emotional seien ihre Kinder noch nicht so weit. Den Senat interessiert anderes.
Update vom 14.04.2016:
Die Zahl der Rückstellungen im Bezirk Pankow hat sich in der Zeit von 2011 bis 2015 mehr als verdreifacht. Während im Schuljahr 2011/2012 noch 283 Kinder zurückgestellt wurden, waren es im Schuljahr 2015/16 schon 886. Das geht aus dem Doppel-Bericht zur gesundheitlichen und sozialen Lage von Kindern für die Einschulungsjahre 2014/15 und 2015/16 des Bezirkamts Pankow hervor.
(Aktualisierung: Susanne Grautmann)
Artikel vom 16.10.2013:
Juri ist fünf Jahre alt und im Stress. Seit er die Thomas-Mann-Grundschule in der Greifenhagener Straße besucht, hat er nicht mehr so viel Zeit zum Spielen. Morgens wecken ihn seine Eltern um 6.30 Uhr. Um diese Zeit ist der Junge kaum wach zu kriegen. Wenn er endlich die Augen aufschlägt, hockt er sich lieber vor seine Ritterburg, als an die Schule zu denken. Seine Mutter Nathalie Mohns* wirft einen Blick auf ihre Uhr und sagt: „Dazu ist jetzt keine Zeit!“. Juri soll seine Zähne putzen, sich anziehen und frühstücken. Als Mutter und Sohn schließlich das Haus verlassen, hat Juri noch seine halbe Stulle in der Hand. Um zehn vor acht verschwindet Juri im Schulgebäude.
Was in den nächsten acht Stunden passiert, weiß Mohns nicht so genau. Juri erzählt nicht viel. Aber wenn sie ihn am Nachmittag abholt, lehnt er schon mal mit dem Rücken an der Wand. Seine Hose ist nass, weil er es in dem großen Schulhaus nicht rechtzeitig bis zur Toilette geschafft hat. In solchen Momenten kämpft Mohns mit den Tränen. Sie fragt sich, was ihr Kind mit seinen fünf Jahren eigentlich schon in der Schule soll.
Wer früh beginnt, lernt mehr
Seit 2004 ist im Berliner Schulgesetz geregelt, dass alle Kinder in dem Jahr, in dem sie ihren sechsten Geburtstag feiern, schulpflichtig werden. Das bedeutet, dass die Jüngsten gerade einmal fünf Jahre und sieben Monate alt sind, wenn für sie die Schule beginnt. In keinem anderen Bundesland sind die Kinder so jung. Die Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Jugend begründet das damit, dass die ersten Lebensjahre für die Sprachbildung besonders prägend seien. Wer früh beginnt, lernt mehr, glaubt sie.
Eine Einschätzung, die viele Eltern nicht teilen. 16 Prozent der Kinder wurden in Pankow 2013 von der Einschulung zurückgestellt – so viele wie in keinem anderen Bezirk. Ist diese hohe Zahl nun symptomatisch für eine Generation von überbehütenden Eltern, die ihren Kindern nichts mehr zumutet? Oder sind Fünfjährige am Ende doch noch nicht reif für die Schule?
Eva und Thomas Henke* aus dem Wins-Kiez können sich kaum vorstellen, dass ihr Sohn Jasper im nächsten Sommer schon eingeschult werden soll. Sie haben gerade erst seinen fünften Geburtstag gefeiert. Von ihrer älteren Tochter Hannah wissen sie, was der Übergang in die Schule bedeutet. Eva Henke meint: „Mit dem Eintritt in die Schule ist die Kindheit vorbei.“ Hannah verbringt jetzt den Großteil ihres Tages im Schulhaus. „Und in den Hofpausen dürfen die Kinder nicht einmal in die Pfützen springen“, erzählt ihre Mutter.
Gleichzeitig wird den Kindern mit dem Schulbeginn sehr viel mehr Selbstständigkeit abverlangt. Sie müssen sich im Schulhaus zurechtfinden, in der Mensa ihr Mittagessen besorgen und unter ihren Mitschülern behaupten. Das erfordert besonders dann viel Selbstbewusstsein, wenn die Hälfte der Klassenkameraden schon in der zweiten Klasse ist. Seit der Einführung des jahrgangsübergreifenden Lernens (JÜL) lernen die Erst- und Zweitklässler in mehr als zwei Dritteln der Pankower Grundschulen gemeinsam. Mancherorts gilt das sogar für die Klassen eins bis drei.
Master and Servant
Nathalie Mohns erinnert sich, dass Juri zunächst fast vollständig damit beschäftigt war, sich in das soziale Gefüge seiner Klasse einzufinden. „Er war komplett absorbiert von den großen Jungs. Er hat alle Geschichten, die sie erzählt haben, für bare Münze genommen, weil es ihm gar nicht möglich war, einzuordnen, was der Realität entspricht und was nicht“, erzählt sie. Die Zweitklässler hatten zum Beispiel ein System von Dienern und Herren in der Klasse etabliert, für das es sogar entsprechende Ausweise gab. Weil sich das nicht während des Unterrichts abspielte, sondern in den Pausen oder vor Unterrichtsbeginn, bekamen die Lehrer gar nichts davon mit. Juri war in diesen Situationen auf sich gestellt und dem nicht gewachsen.
Faktoren wie emotionale Reife und Eigenständigkeit kommen bei der schulärztlichen Untersuchung aber kaum zum Tragen. Sie dauert nur zwanzig Minuten und dient als Test, welche Aufgaben die Kinder schon bewältigen können. So müssen sie zum Beispiel verschiedene Objekte bestimmen oder Reihen logisch fortsetzen. Es erscheint fast unmöglich, danach Aussagen über den emotionalen Entwicklungsstand eines Kindes zu treffen. „Die Untersuchung war eine Farce. Ich hatte den Eindruck, dass die Schulreife attestiert wird, wenn die Fragebögen richtig ausgefüllt sind“, erinnert sich Nathalie Mohns.
Für Renate Valtin, emeritierte Professorin für Grundschuldidaktik an der Humboldt-Universität, setzt die Beurteilung der Schulreife insgesamt falsch an: „Die Frage kann doch nicht sein, ob die Kinder reif für die Schule sind. Die Schule muss sich doch auf den Entwicklungsstand der Kinder einstellen.“ Valtin meint, man habe es in Berlin versäumt, bei der Herabsetzung des Einschulungsalters die Unterrichtsmethoden und Lerninhalte an die Bedürfnisse einer jüngeren Schülerschaft anzupassen. Je jünger die Erstklässler seien, desto mehr seien sie auf eine spielerische und ganzheitliche Heranführung an das Lernen angewiesen, so die Professorin.
Der Senat überprüft die Leistungen, die Lehrkräfte schweigen
Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft scheint sich dagegen mehr für die schulischen Leistungen der Kinder zu interessieren. Ob diese sich bei früh Eingeschulten von denen der Mitschüler unterscheiden, lässt Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) laut ihrer Pressestelle gerade an den Vergleichsarbeiten der Drittklässler überprüfen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung sollen Ende des Jahres veröffentlicht werden. Eine Studie zur emotionalen Reife der Kinder und zu ihren spezifischen Bedürfnissen ist aber nicht vorgesehen. Leider wollte sich auch keiner der angefragten Lehrer zu seinen Erfahrungen mit der Früheinschulung äußern.
In dieser Woche haben Eva und Thomas Henke die Unterlagen für Jaspers Schulanmeldung in ihrem Briefkasten gefunden. Der erste Schritt ist der Besuch beim Schularzt. Sofort werden Erinnerungen an Hannahs Besuch beim Schularzt wach. Damals hatten sie den Eindruck, dass sie als Eltern gar nicht miteinbezogen wurden.
Diesmal bereiten die Henkes den Termin sorgfältig vor, denn sie möchten Jasper zurückstellen lassen. Sie haben mit anderen Eltern gesprochen, die ihr Kind erfolgreich zurückstellen ließen, und sich Adressen von Beratungsstellen besorgt. Zudem wollen sie schon vor der Untersuchung ein psychologisches Gutachten über ihren Sohn erstellen lassen.
Zu viele Hoffnungen möchten sie sich trotzdem nicht machen. „Wenn es klappt, dann betrachten wir es als Geschenk“, meint Eva. Den Marsch durch die Institutionen wollen sie sich und Jasper in jedem Fall ersparen. Eigentlich möchten sie einfach nur selbst entscheiden können, ob ihr Kind schon mit fünf Jahren in die Schule gehen soll.
*Namen von der Redaktion geändert
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