„Der Stasi wird viel zugeschrieben“

von Thomas Trappe 24. September 2013

Ilko-Sascha Kolwaczuk forscht über die Stasi. Viele Spuren führen ihn nach Prenzlauer Berg. Und sehr oft zu falschen Mythen. Ein Gespräch.

Ilko-Sascha Kowalczuk wurde 1967 in Berlin-Friedrichshagen geboren, 1988 zog er nach Prenzlauer Berg: Zunächst in eine besetzte Wohnung in der Kollwitzstraße, 1993 dann in der Lychener Straße. Heute lebt Kowalczuk die meiste Zeit mit seiner Familie in Süddeutschland, hat aber weiterhin die  Wohnung in der Nähe des Helmholtzplatzes. Der promovierte Historiker war Mitglied der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ und arbeitet als Projektleiter in der Berliner Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagen-Behörde.

In seinem in diesem Jahr bei C.H. Beck erschienen Buch „Stasi Konkret“ beschäftigt er sich mit dem Mythos der Stasi als allwissenden Geheimdienst. Damit werde Verantwortung für Unrecht in der DDR „bequem auf eine einzige ihrer Säulen abgeladen“, so Kowalczuk. Verharmlost werde damit die Rolle derer, die auch ohne Mitarbeit in der Geheimpolizei das DDR-Regime stützten, übertrieben die Macht der Stasi. Die Begriffe Stasi und IM dürften nicht als Chiffre für das Böse schlechthin verstanden werden, sondern müssten immer im Kontext betrachtet werden: Nicht jeder IM war ein Denunziant, und nicht jeder Denunziant war bei der Stasi. Viele der unzähligen Quellen, die Kowalczuk auswertete, führten in den Prenzlauer Berg. Anlass für ein Gespräch.

 

Herr Kowalczuk, ihr Buch beschäftigt sich mit der Stasi in der DDR. Ein weites Feld. Der Großbezirk Pankow und Prenzlauer Berg werden, mein Eindruck, überdurchschnittlich häufig erwähnt. War die Stasi hier besonders aktiv?

Das Milieu war ein besonderes. DDR-Bürger mit alternativen Lebensentwürfen kamen hierher, weil es großstädtische Anonymität gab. Zudem massenhaft leere Wohnungen, die man besetzen konnte, ich selbst habe das gemacht. Das zieht bestimmte Menschen an: Leute, die oppositionell eingestellt sind und solche, die wenigstens ihre Ruhe vorm Staat haben wollten. Da wird im Nachhinein viel verklärt, von wegen, der Prenzlauer Berg sei ein oppositionelles Zentrum oder Treffpunkt der Intellektuellen gewesen. Und auch manche Repressionserfahrung wird im Nachhinein der Stasi zugeschrieben. Wenn abends die Polizei klingelte, weil es zu laut war, steckte da meist nicht die Stasi dahinter. Damit will ich natürlich nicht sagen, dass die Stasi keine Rolle spielte, sie war aber eben in Prenzlauer Berg nicht flächendeckend im Einsatz, sondern nur punktuell, dort aber sehr intensiv. Wie im Rest der Republik auch.

 

Die Stasi war also nicht omnipräsent. Im Rückblick scheint das ja oft so, vor allem wenn es um den Teile Ost-Berlins, darunter Prenzlauer Berg, geht?

Das zu vermitteln ist ein Grundanliegen meines Buches. Es war der Stasi sehr wichtig, den Eindruck der Allgegenwärtigkeit zu vermitteln – aber tatsächlich hat sie das nie geschafft, rein personell war es gar nicht zu stemmen, technisch auch nicht. Es ist ein später Sieg der Stasi, dass in der heutigen Betrachtung der von ihr geschaffene Mythos des allumfassenden Geheimdienstes gilt. Zugleich verhielten sich in der DDR viele Menschen stets so, als seien der Staat, die SED und ihre Stasi überall anwesend und haben sich entsprechend verhalten. Das nennt man Diktaturrealität.

 

Wie groß war die Angst vor der Stasi in Prenzlauer Berg?

Grundsätzlich gilt: Je geringer der formelle Bildungsgrad, desto geringer der Anpassungsdruck. Das galt für die DDR ganz massiv. Jemand, der studieren und Karriere machen wollte, musste vorsichtiger sein, als jemand, der auf dem Bau arbeitete. In Prenzlauer Berg lebten damals viele Studenten, und die waren meist extrem angepasst, wenn auch nicht unbedingt innerlich überzeugt. Andere  junge Leute wiederum verhielten sich in den 70er- und 80er-Jahren oft anders als ihre Eltern und Großeltern, die den offenen Terror vor dem Mauerbau direkt erlebt hatten, angstfreier, überhaupt freier, sie litten nicht selten mehr unter der Unfreiheit und zeigten dies auch, nicht zuletzt im Prenzlauer Berg. In der politischen Oppositionsszene verlor man ab den 1970ern Jahren ohnehin die Angst vor der Stasi immer mehr und trat auch offener systemkritisch auf. Was natürlich dafür sorgte, dass diese Szene von der Stasi besonders durchsetzt war.

 

Was ja dann doch darauf hindeutet, dass die Stasi, zumindest in diesen Kreisen, immer dabei war. 

Schon. Aber die Kreise waren quantitativ relativ überschaubar. Vielleicht ein paar Tausend im gesamten Bezirk.

 

Sie beschreiben in ihrem Buch, dass es recht einfach sein konnte, sich der Stasi zu entziehen. Indem man kurz nach Kontaktaufnahme einfach seinen Freunden oder dem Pfarrer davon berichtet. Dann war man als IM verbrannt?

Ja, das war fast immer ein möglicher Ausweg. Nur wussten das viele nicht. Sie trauten sich nicht, sich den Anwerbungsversuchen auf diese Art zu entledigen – und wurden IMs. Auch wenn die Angst retrospektiv meist ungerechtfertigt war, sie hatte eine Ursache. Deshalb ist es so schwer, aus heutiger Sicht über Stasi-IMs ein Urteil zu sprechen. Schon gar nicht, wenn man für die Gesamtheit der IMs eine Aussage treffen will. Da hilft nur, sich jeden Einzelfall genau anzuschauen und historisch zu bewerten. Was hat jemand wirklich getan in der SED-Diktatur – ob nun mit Stasi-Anbindung oder ohne.

 

Viele IMs wurden von ihren Verbindungsoffizieren in sogenannten konspirativen Wohnungen betreut. In Prenzlauer Berg soll es an die 200 solcher Objekte gegeben haben.

Konspirative Wohnungen sind für jede Geheimpolizei von enormer Bedeutung. Man braucht einen geschlossenen Raum, in dem man unauffällig aus und ein gehen kann. Prenzlauer Berg war für solche Objekte extrem gut geeignet, bei all den Häusern und Hinterhäusern, bei denen sowieso keiner alle Nachbarn kannte. Auffällig war hier, dass sehr viele konspirativen Wohnungen Einraum-Wohnungen waren – das heißt, da hat mit großer Wahrscheinlichkeit niemand gewohnt. Manche der konspirativen Wohnungen wurden auch einfach als Büros genutzt. In der Knaackstraße gab es ein größeres Objekt, das ist dann aber irgendwann aufgeflogen.

Manche Wohnungen wurden auch gezielt ausgesucht, weil Nachbarn ausgespäht werden sollten. Da wurde dann zu den Mietern der Wohnung Kontakt aufgenommen – und wenn sich zeigte, dass die linientreu sind, kam man ins Geschäft.

 

[Auf der Seite der Robert-Havemann-Gesellschaft findet sich eine Karte mit konspirativen Wohnungen in Prenzlauer Berg. Vor allem im westlichen Teil befanden sich Objekte, konzentriert zum Beispiel im Helmholtzkiez, um die Oderberger Straße oder im Gleimviertel. Aufgeführt ist auch ein riesiger Wohnkomplex, in dem das Ministerium für Staatssicherheit als Vermieter auftrat – hier wohnten hauptamtliche Mitarbeiter. Rund 140 Wohnungen auf knapp 10.000 Quadratmeter wurden vermietet. Der Komplex befand sich in der Ostseestraße. Die allermeisten einstigen Stasi-Angestellten seien inzwischen nicht mehr dort wohnhaft, betont Kowalczuk.]

 

Lassen Sie uns über Harry Schlesing reden.

Der wohnte in der Alten Schönhauser und war ein sehr effizienter Stasi-Mitarbeiter. Charismatisch, eloquent, aber auch ein ziemlich schlechter Mensch. Beispielsweise hat er mal seine Nachbarn und seine Frau mit einer Waffe bedroht. Der konnte in ganz viele Rollen schlüpfen: Kommunist, Zeugen Jehovas, Handwerker, Intellektueller.

 

[Harry Schlesing ist laut Kowalczuks Buch „unter Umständen der heimliche Unterweltkönig der Spitzel und Denunzianten in der DDR“. 1900 wurde Schlesing geboren, unter den Nazis saß er zweimal im Gefängnis. Nach 1945 wurde gegen ihn wiederum ermittelt, weil er für rund 2000 Denunziationen bei Kripo und Gestapo verantwortlich gewesen sein soll. Die Sowjets in der Ostzone warben Schlesing dann als Spitzel an, 1950 übernahm ihn die Staatssicherheit, die auf seine Spitzel-Leidenschaft aufmerksam geworden war. Es folgt eine „beispiellose IM-Karriere“, schreibt Kowalczuk. Und betont damit auch, dass es sonst weit weniger filmreif zuging.
 

Schlesing bereiste als Invalidenrentner die gesamte DDR. Sozial äußerst kompetent vertrauten ihm die Leute schnell, und Schlesing konnte sich viel merken und hatte eine sehr präzise Auffassungsgabe. Er stellte sich wahlweise als Ingenieur, Journalist, Förster, Geistlicher oder ehemaliger Faschist vor. Er war für hunderte Verhaftungen ausschlaggebend, und wurde vom Ministerium mehrfach ausgezeichnet – und auch gut entlohnt. Er besaß mehrere Idenitäten, die Stasi führte ihn unter mindestens sieben verschiedenen Decknamen. Er wurde schließlich sogar „Offizier im besonderen Einsatz“. 1971 schließlich starb Schlesing, bis zuletzt war er im Dienste der Stasi.]

 

Wie blieb Schlesing anonym in Prenzlauer Berg? So ein illustres Agentenleben bleibt Nachbarn doch nicht verborgen?

Er hat hier nicht ermittelt. Dafür ganz viel in Thüringen, Sachsen, an der Ostsee, bis 1954 in West-Berlin. Im Prenzlauer Berg führte er ein ganz normales Rentnerleben, wenn auch mit etwaigen Gewaltausbrüchen.

 

Schlesing war eine schillernde Ausnahme. Wie kann man sich die hauptamtlichen Mitarbeiter vorstellen?

Das Bildungsprofil war unterdurchschnittlich, kaum jemand hatte Abitur. Solche Leute wurden bewusst gesucht. Die Stasi war eine militärische Einrichtung, das braucht natürlich auch einen bestimmten Menschentypen. Und viele Leute scheiden da von vornherein aus. Natürlich gab es  auch geistreiche und eloquente Typen, aber das war eine verschwindend kleine Minderheit. Andererseits: Bei zuletzt etwa 91.000 hauptamtlichen Mitarbeitern findet sich natürlich letztlich ein gewisser gesellschaftlicher Querschnitt.

 

Gibt es auch einen typischen IM?

Nein, gar nicht. Hier hat man einen perfekten Querschnitt durch die Gesamtgesellschaft. Vom Sozialprofil, dem Bildungsprofil, bei allem, was sie sich denken können. Anpasser, Faule, Fleißige, alles wie in der ganz normalen Nachbarschaft.

 

Sie beschreiben im Buch auch die IMs, die in den Kreisen der kirchlichen Opposition unterwegs waren, die wiederum in Prenzlauer Berg eine herausragende Rolle spielte. Was Sie schildern, klingt ziemlich gruselig.

Zum Beispiel, wenn die Stasi in die Wohnung eindrang und ein paar Handtücher verhängt, so, dass man es sieht. Weiter machten sie nichts. Die Betroffenen machte das wahnsinnig. Entweder glaubte man selbst, dass man verrückt wird. Oder, wenn man es erzählte, glaubten es die anderen. „Ja klar, die Stasi kommt in deine Wohnung und verhängt die Handtücher.“ Das mit den Handtüchern spielte sich bei einer jungen Frau in Pankow ab.

 

Kam sowas oft vor in Prenzlauer Berger Oppositionskreisen?

Nein, das funktionierte alleine deswegen nicht, weil es eine ganz triviale Voraussetzung gab: Die Leute mussten extrem penibel und ordnungsliebend sein, sonst merken sie nicht, wenn ein Handtuch woanders hängt.

 

Aber es gibt ja sicher auch andere Methoden, die den gleichen Effekt erzielen?

Solche Zersetzungsmaßnahmen gab es sehr viele, die aber nur individuell funktionieren – das Beispiel der Handtücher zeigt es ja. Es gibt aber bei jedem eine Achillesferse. Es wurden auch Familienmitglieder gegeneinander ausgespielt. Die Tochter einer Oppositionellenfamilie zum Beispiel brachte eines Tages nur noch Einsen aus dem Staatsbürgerunterricht mit, wofür man schon sehr opportunistisch sein musste. Mit dem Effekt, dass die Eltern den kritischen Worten ihrer eigenen Tochter am Abendbrottisch nicht mehr glaubten. Was sie nicht wussten: Der Direktor und der Staatsbürgerkunde-Lehrer arbeiteten mit der Stasi zusammen. Das Mädchen konnte machen, was es wollte – es bekam immer eine Eins.

 

Eine letzte Frage. Die Mauer, die auch Prenzlauer Berg von West-Berlin trennte – was bedeutete sie für die Präsenz der Stasi hier? 

An der Grenze war die Stasi präsenter, das galt für die gesamte DDR und für Ost-Berlin natürlich besonders. In Mauernähe waren Westkontakte eher möglich, genau wie Fluchtversuche. Das führte dazu, dass in Pankow und Prenzlauer Berg an die neuralgischen Punkten Stasi-Leute gesetzt wurden. Menschen, die auffällig wurden, mussten Häuser in Grenznähe oft verlassen. Dort sind dann in der Regel Leute nachgezogen, die linientreu waren, aber natürlich gab es auch hier Ausnahmen. Wie immer gilt auch hier: Nur genaues Hinschauen ermöglicht eine Einschätzung.

 

Herr Kowlaczuk, vielen Dank für das Gespräch!

 

 

Ilko-Sascha Kowalczuk: Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR. Beck, 2013. 428 Seiten, 17,95 Euro.

Das könnte Dich auch interessieren

Hinterlasse einen Kommentar