Der blinde Fleck

von Thomas Trappe 22. Juli 2013

Im Juni 1945 explodiert in der Sonnenburger Straße eine Schule, es gibt viele Tote. Offiziell wurde das Ereignis in der DDR geleugnet. Ein Prenzlauer Berger recherchierte auf eigene Faust.

Dieter Steiger erzählt vom Krieg. Mitten auf die Kreuzung steht der Rentner mit dem guten Bauch und der kurzen Hose. Es kreuzt die Sonnenburger Straße die Kopenhagener, und nun zeigt Steiger in Richtung Humboldthain, den man natürlich nicht sehen kann. „Damals konnte man den sehen.“ Damals, Februar 1945, ging der Blick nicht nur in der Kopenhagener Straße weit, er ging es auch in der Sonnenburger. Freie Sicht bis zur Eberswalder. Es war ein Straßenzug, dessen beiden Enden für die Anwohner die Pforten zur Hölle markierten, und sie saßen mittendrin. Dieter Steiger erinnert sich an die Frau im Pelzmantel und den Mann mit dem Koffer und dem Krückstock. Sie lagen beide tot auf der Sonnenburger, dort, wo heute Zalando ist. Steiger rekapituliert, wie man es wohl nur kann, wenn man als Sechsjähriger ein Kriegstrauma erlebt hat. Erzählt und erzählt. Bis zur Schule, in der er fast gestorben ist und die es offiziell nicht gab, ist es noch ein paar Meter. Und zu jedem Meter hat Steiger eine Anekdote parat, wenn man dieses Wort in dem Zusammenhang verwenden darf.

Dass Steiger soviel zu sagen hat, lässt einen fast vergessen, dass er es ja eigentlich ist, der etwas sucht. Ein Bild. Ein Foto von der Schule in der Sonnenburger Straße 67. Dort ist heute nichts, nur ein Sportplatz und eine kleine Grünfläche. An der Schule ereignete sich am 18. Juni 1945 eines der größten Unglücke der Nachkriegszeit in Prenzlauer Berg, und Dieter Steiger überlebte es nur knapp. Ein Munitionslager explodierte, mindestens 26 Tote soll es gegeben haben, Anwohner haben das damals ausgerechnet. Denn das ist die Krux: Ein offenbar durch Fahrlässigkeit von Sowjets ausgelöstes Inferno passte nicht in die Geschichtsschreibung der sowjetischen Militär- und später DDR-Behörden – die Schule wurde aus sämtlichen offiziellen Registern gelöscht, ihre Existenz und damit das Unglück in guter kommunistischer Tradition einfach negiert. Starker Tobak, den Steiger da erzählt, und da passt es ganz gut, dass ihm bereits 1991 bestätigt wurde, dass er recht hat. Die Schule hat es gegeben.

 

Bombenlücken sind noch heute sichtbar

 

Doch an der Schule ist Steiger noch lange nicht, jetzt hat er erst mal gezeigt, wie weit der Blick damals ging. Dort, wo heute Stühle der Kohlenquelle auf Flanierer warten, habe damals ein einzelner sowjetischer Panzer gestanden, im Schutz der Panzersperre, die die Wehrmacht vorher aufstellte. Der Panzer kam aus dem Norden über eine Brücke, die es nicht mehr gibt, und zielte auf das andere Ende der Sonnenburger Straße, Höhe Eberswalder. Dort standen Flakgeschütze der Wehrmacht. Die Straße war damit eine einzige Schusslinie, „verteidigt mit Mann und Maus“, erinnert sich Steiger. Einige hätten versucht, die Straße zu überqueren. Manche schafften es. Einige sogar den Rückweg.

Steiger wohnte seit seiner Geburt 1938 in der Sonnenburger Straße 74, in der zweiten Etage. Die Gegend hier war von den Bombardements zuvor kaum betroffen, einzig ein Haus gegenüber der heutigen Kohlenquelle und drei weitere in der Kopenhagener seien zerbombt oder „zerschossen“ worden – man kann das heute ganz gut sehen, weil sich dort immer noch Freiflächen befinden. Die Sonnenburger Straße war für die Anwohner zwischen Februar und Mai 1945 eine No-Go-Area, und die Häuser waren auch nicht gerade sicher. Eines Tages wurde zu Steigers in die Wohnung geschossen, das Fenster lag dann auf dem Bett. Im Nachbarhaus brach die Fassade ab, freier Blick auf Möbel und Familienporträts. Die Bewohner hatten sich sowieso schon in die Keller zurückgezogen, raus ging es nur über die Hinterhöfe. Ab und an kamen sowjetische Soldaten in die Hausflure, es war ja ein Häuserkampf. Dieter Steiger wurde das erste Mal von Russen überrascht, als er gerade im Keller in einen Eimer sein Geschäft verrichtete, erzählt er. „Mit mir haben die da nicht gerechnet. Die haben dann auch nur gelacht und sind weiter gezogen.“ 

 

Die Geschichte hatte vergessen

 

Es waren Wochen des Ausnahmezustands. Nach dem Waffenstillstand gab es noch Munition in Massen. Im ganzen Kiez, vor allem am Gleimtunnel, lagen Tonnen unverbrauchten Sprengstoffes. Das alles kam dann auf den Schulhof der Schule in der Sonnenburger Straße, die Dieter Steiger seit 1944 besuchte: Die 7. und 8. Volksschule Prenzlauer Berg für Knaben und Mädchen. Eltern hätten sich nach Kriegsende darüber beschwert, dass ihre Kinder neben einer Sprengstoffkammer unterrichtet werden. Am 18. Juni sollte die Munition durch deutsche Zivilisten abtransportiert werden – während nebenan hunderte Kinder unterrichtet wurden. Es kam zur Katastrophe: Eine riesige Explosion, „und die dauerte sechs Stunden“, so Steiger. Er wurde verschüttet, schließlich gefunden und mit doppeltem Schädelbasisbruch ins Krankenhaus Prenzlauer Berg gebracht. Er zeigt die Bestätigung, die ihm die Klinik damals gab. Seine Überlebenschancen waren gering, „der Arzt ging wohl davon aus, dass mein Bett am nächsten Morgen frei ist“. Drei Wochen Koma folgten, drei weitere Wochen Krankenhausaufenthalt. Steiger ist seitdem Epileptiker. Die Geschichte der Explosion hat er nie vergessen. Nur musste er viele Jahre später feststellen, dass die Geschichte die Explosion vergessen hatte. 

1991 nämlich wollte Steiger Rente als Kriegsgeschädigter beantragen – mit Verweis auf das Schul-Unglück. Doch im Amt hörte er nur, dass es in der Sonnenburger Straße nach Verwaltungswissen nie eine Schule gegeben habe. Es wurden dann sehr viele Ämter-Besuche, nirgends, auch nicht beim Berliner Archiv, war etwas über die Schule bekannt. Steiger wollte sich damit nicht zufrieden geben, in der Straße suchte er Zeugen. Er fand viele, sie alle bestätigten ihm eidesstattlich, dass es Schule und Explosion gegeben habe. Schließlich wurde er als zu 60 Prozent Kriegsgeschädigter anerkannt. Und das Schulamt Prenzlauer Berg schrieb ihm. Er habe „Licht in die Geschichte“ gebracht, steht in dem Brief. Und dass zu DDR-Zeiten offenbar ein Stück Prenzlauer Berger Geschichte vergessen gemacht werden sollte. 

 

Buch über die Ereignisse fast fertig

 

Nur das Foto fehlt immer noch. Eines hat Steiger, es zeigt nach seiner Aussage den Schulhof Anfang der 30er Jahre. Auf einem zweiten ist die Schule zu sehen, allerdings nach der Explosion. „Ansonsten ist nichts vorhanden, wo immer ich auch anfrage.“ In den letzten Monaten fragte er wieder häufiger nach; er schrieb an einer Chronik der Ereignisse. Die ist jetzt weitgehend fertig, bald soll das Buch mit dem Titel „Berlin. Ecke Sonnenburger“ in einem Kleinstverlag erscheinen. Das Drama vom Mai 1945: Irgendwer musste es ja mal aufschreiben.

 

In einer ersten Version des Textes stand, dass die Explosion sich im Mai ereignete. Das war falsch: Sie fand im Juni statt. Korrigiert am 26. Juli.

 

 

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