Philosophieren auf der Steintreppe

von Thomas Lindemann 13. September 2012

Der Prenzlauer-Berg-Film „Tom Atkins Blues“ porträtiert einen Spätkauf in der Choriner Straße und ist ein Lehrstück über Gentrifizierung. Derzeit wird er wieder populär: Und zwar in Neukölln. Jetzt ist noch unveröffentliches Material zum Film erschienen. 

Einmal in diesem Film sitzen zwei junge Menschen, zwei die hier aufwuchsen, auf der Treppe in der Choriner Straße, schweigen, und dann hört man plötzlich: „Früher waren die Leute hier netter zueinander“. Das könnte als einer der traurigen Prenzlauer-Berg-Momente in die Stadtteilgeschichte eingehen.

Die Szene stammt aus „Tom Atkins Blues“, einem Dokumentarfilm über den Spätkauf nahe der Ecke Choriner und Schwedter Straße. Den Spätkauf mit der Steintreppe, die man hochsteigen muss, um dann in einem urigen alten Laden zu landen – einem ohne Neonleuchten, einem, der alles hat, nicht nur Bier. Den Film drehte der Brite Alex Ross 2010, in ein paar Wochen. „Die Leute denken immer, wir hätten einfach nur die Kamera hingestellt und das wahre Leben gefilmt“, erklärt er. „Aber so einfach ist das nicht.“ Die Spätkaufszenen – ein bißchen erinnern sie an den Low-Budget-Klassiker „Clerks“ von Kevin Smith, bloß ohne den Slapstick – sind zwar teilweise mit den echten Stammgästen gedreht. Aber die meisten Rollen wurden von Profischauspielern übernommen.

 

Prenzlauerbergisierung, nur noch schneller

 

 Eigentlich war „Tom Atkins Blues“ dann schon vor knapp zwei Jahren erschienen, war gut im Acud gelaufen und hatte einige Festivals besucht. Die Zeit des Films war vorbei. Nun plötzlich gibt es wieder Interesse. Cafés und Initiativen in Neukölln zeigen ihn – sie empfinden die aktuellen Vorgänge dort als „Prenzlauerbergisierung, nur noch schneller“. Ross sieht zwar sehr viele Unterschiede zwischen den beiden Stadtteilen. Vor allem den, dass in Prenzlauer Berg bekanntlich praktisch keine Ausländer und Migranten leben. Aber er sieht das neue Interesse: „Wenn wir ihn dort zeigen, wird viel diskutiert hinterher, und das ist alles wieder ganz aktuell“, sagt er. Er hat nun reagiert und Aufnahmen, die herausgeschnitten wurden, online bereitgestellt (Etwa auf Leute-am-Teute.de). Diese Interviews mit Anwohnern, alle geführt auf der Treppe zum Spätkauf, fallen ganz aus der Teilfiktion des Films heraus, sind einfach nur dokumentierte Stadtteilgeschichte. Darin zeigen sich rührende Momente. „Eine riesengroße Party“ sei das gewesen, damals im Pberg, sagt einer. Aber er könne sich nicht genau erinnern. Zuviel Alkohol.

 

„Wir haben keine Lobby.“ Wir, das sind die einfachen Leute.

 

 Alex Ross hatte im Jahr 2000 den Grimme-Preis erhalten, für einen Film über seinen Weg nach Berlin: „Move on up“ porträtiert einen Briten, der spontan nach Berlin auswandert. Amüsant war das, zwar einfacher und roher, aber auch witziger und fröhlicher als „Tom Atikins Blues“. Beide aber sind sehenswerte Berlin-Filme.

 Eigentlich wäre es wohl Zeit, dass die Stadt Ross eine Art Ehrenmedallion verleiht. Stattdessen bemerkt sie ihn nicht. „Von der Politik darf man nichts erwarten“, sagt Ross und meint eigentlich die schräg laufende Gentrifizierung, das Clubsterben, die Verdrängung so genannter Alteingesessener, „Politik ist heute überall sehr weit entfernt von der Realität.“ Und noch eins scheint ihm klar: „Wir haben keine Lobby“. Wir, das sind die einfachen Leute. Ein bißchen sozialromantisch ist er vielleicht, dieser englische Wahlberliner. Aber er ist auch wie sein Film – freundlich und ohne jede Verbissenheit, eher beobachtend als kämpferisch. So zeigt übrigens „Tom Atkins Blues“ auch das ganze Elend der Gammler und Hänger, die es sich vor dem Späti in der Choriner jahrelang gemütlich gemacht haben. Hier gibt es nicht nur Gemeinschaft, sondern auch viel Suff und Neid. Und Ross selbst, der heute in Neukölln lebt und über den Wandel seines neuen Kiezes staunt, hasst nicht alles daran. „Es gibt drei neue Cafés, einen sehr guten Eisladen, das ist natürlich auch hübsch alles.“ Dass aber die Moschee umziehen musste, mit der man dort so gut im Einklang lebte, findet er häßlich.

Sein „Tom Atkins Blues“ hat sich als hilfreiches Dokument zur „Gentrifizierung“ etabliert, dieser neuen Sache, von der in Berlin jetzt alle reden. Ein verräterisches Wort, weil „Gentry“ im England der Spätrennaissance eine seltsam heimatlose, aber hochnäsige Schicht bezeichnete, die gehobene Bürger und niederen Adel gleichermaßen umfasste. Der Zeitgeist unserer Jahre hat die Zeichen demnach wohl wieder auf Aufstieg gestellt. Symbolisiert ist das in dem Film durch Anzugtäger und Kostümträgerinnen, die später immer wieder in den Laden kommen, manche wollen ihn kaufen und zum Museum machen.

 

Für Ross beginnt das Spiel von vorn – in Neukölln

 

Ross kam 1993 nach Berlin, zufällig nach Prenzlauer Berg, weil ein Freund dort etwas frei hatte. Er merkte schnell, dass er in einer besonderen Gegend gelandet war. Die Leute wohnten hier nicht nur, sie lebten mit dem Stadtteil, fühlten eine Gemeinschaft. Daraus entstand damals die Initiative „Leute am Teute“, die bis heute versucht, die Reste des Gemeinsamen zu retten. Sieben Jahre lebte der Brite Alex Ross in der Gegend, und er arbeitete wirlich als Verkäufer in dem Späti in der Choriner Straße 12. Dessen Geschäftsführer, den er im Film spielt, war er nicht. „Bloß nicht!“, sagt er heute und lacht über die Vermutung. Auch wenn die immer wieder an ihn herangetragen wird. Er ist Filmemacher, er beobachtet.

Und Alex Ross ärgert sich inzwischen. Vor zehn Jahren musste er Prenzlauer Berg verlassen. Das Haus, in dem er wohnte, wurde verkauft, der neue Vermieter war immer sehr freundlich, und plötzlich kam die Klage wegen Eigenbedarfs auf den Tisch. Ross ist dann weggezogen, weit weg, in die Nähe der Boddinstraße, in den Schillerkiez, damals eine lebendige, aber aus Sicht jedes Investors ganz trübe Gegend, angrenzend an den mächtigen Zaun des Flughafens Tempelhof.  Nun ist Tempelhof offen und Neukölln Szenebrennpunkt, und plötzlich soll die Gegend zum Luxusquartier werden, mit einem Park direkt vor der Nase. Die Kaltmieten haben sich verdoppelt. Für Ross beginnt das Spiel von vorn. Er macht das beste draus und plant einen neuen Dokumentarfilm, diesmal über den Schillerkiez in Neukölln. „Was passiert mit den Alteingesessenen, die seit manchmal 40 Jahren da wohnen, frage ich mich, das will ich untersuchen.“

Der Späti in der Choriner ist heute übrigens eher ein Café als ein Laden. Anders ging es wohl nicht weiter.

„Tom Atkins Blues“ kann man bei absolutondemand.de für 5 Euro downloaden oder in der Videothek Negativeland, Danziger Straße 41, ausleihen.

 

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