Moderner Bieberkopf

von Jamal Tuschick 15. August 2012

Helmut Kuhn, Autor und Schachboxer, hat den Roman „Gehwegschäden“ geschrieben und unser Autor Jamal Tuschik hat ihn getroffen und dazu befragt.

Gerade hat er die Oma aus Fulda in den Prenzlauer Berg geholt. Das ließe sich womöglich verwegen darstellen als eine Variante verspäteter Familienzusammenführung. – Auf einem Schauplatz, der die Zukunft vorweg nimmt in Probeläufen, mit viel Kunstgewerbe am Nestbau. Davon erzählt Helmut Kuhn in seinem, in der Frankfurter Verlagsanstalt erschienenen Roman „Gehwegschäden“. Ich habe das Buch mit heißen Ohren gelesen. Seitdem sehe ich überall soziale Skulpturen und Guerillastrategien in prekären Lagen. – Berlin als Bewerbungsfläche: man ist da, das muss reichen. 

„Gehwegschäden“ liest sich mitunter wie ein Anti-Manifest der neuen Mitte, mit sämtlichen Bedeutungen, die in „Mitte“ zu finden sind. Angefangen bei den Titel stiftenden „Gehwegschäden“ als einem Beispiel für städtische Erosionen. Die einschlägigen Schilder deutet Kuhn als kommunale Kapitulationserklärungen. Sie erfüllen „einen juristischen Zweck: Wer sich auf den Gehweg begibt und dabei zu Schaden kommt, kann die Allgemeinheit dafür nicht haftbar machen“. 

 

Kuhn als aktiver Schachboxer

 

„Gehwegschäden“ knirscht wie Kies. Kuhn hat sich mit dem Roman in die erste Reihe der neuen deutschen Literatur geschrieben. Das steht für mich fest. Wir sitzen vor Bert Papenfuß‘ „Rumbalotte“ im Französischen Viertel. Kollege Kuhn hält sich an Wasser, er will noch ins Training. So sieht er aus, so massiv in die Jahre gekommen. Kuhn betreibt Schachboxen, die Kombination geht auf einen holländischen Aktionskünstler zurück. Sein Romanheld Thomas Frantz tut es ihm gleich. Die biografischen Übereinstimmungen zwischen Frantz und Kuhn müssten eine Liste lang werden lassen. Kuhn wurde 1962 in München geboren. Viel Kinder- und Jugendzeit verbrachte er bei den Großeltern in Fulda. Die letzten Schuljahre verschafften ihm am Chiemsee Internatserfahrungen: „Ich wollte das so.“ 

Nach dem Abitur kam Berlin. Die große Stadt: ohne Umwege. Darauf habe er angelegt, erklärt Kuhn. Keine Trödelei an der Peripherie und immer gleich das Kilo als erst einmal ein Pfund zur vorsichtigen Ansicht. Der Fünfzigjährige verbreitet noch eine Ahnung von potentem Zugriff, genau so wie Frantz, dieser moderne Biberkopf. Thomas Frantz ist angeschlagen, aber nicht gebrochen. Die Sparringpartner seines Alltags zeichnet effektive Einfalt aus. Jeder kriegt irgendwas hin, nur zum Gelingen taugt es wenig. So steht es geschrieben im Roman: „Ihre Freiheit ist ihr Untergang“. 

 

Ein Staubsauger von einem Mann

 

Ich spüre dieses An- und Aufsaugende bei Kuhn. Das ist ein Staubsauger von einem Mann. Er studierte Geschichte auch in Paris – und befleißigte sich zum Magister über „Adenauer und die hohe Kommission (der drei westlichen Siegermächte)“. Lange unter Verschluss gehaltene Akten prüfte er an der Sorbonne auf politischen Sprengstoff. Kuhn befasste sich mit der „Organisation Gehlen“ in der Gründungsära der Republik und so auch des Bundesnachrichtendiensts. Er kultivierte seine Spürnase, trainierte die investigativen Reflexe … und verliebte sich auf dem Boulevard de Ménilmontant, nahe des Père Lachaise, „in eine Jüdin aus New York“. Nun gab es „nichts mehr außer ihr oder dem Tod“. Das schmeckte anders als Aktenstaub und ein Lob vom Professor. Magister Kuhn erzwang eine amour fou als literarische Erfahrung nicht zuletzt. In New York City ließ sich gut leiden, mit Ironie maskiert Kuhn im Prenzlauer Berg eine abgestorbene Verzweiflung. Auch sonst ging in Amerika allerhand los und vonstatten. Kuhn volontierte auf einem Flaggschiff der Emigration: dem weltweit auf deutsch, bis 2004 von New York aus verbreiteten „Aufbau“-Periodikum. 

„Plötzlich steckte ich in all diesen jüdischen Geschichten“. 

Kuhn guckt in meinem Gesicht nach, ob ich folgen kann. Ja, auch ich habe diesen wieder und wieder umgeschulten Blick im Angebot. Kuhn fährt die Namen von Autoren auf, die im „Aufbau Magazin“ publizierten: Feuchtwanger, Thomas Mann, Hannah Arendt. 

Zum Trotz seien die Emigranten steinalt geworden, so wie die erste Rechtsanwältin, die in Österreich 1925 zugelassen worden war. – In ihrer Sphäre das Fluidum der Weimarer Republik. Eine Air wie in „Casablanca“. 

„Sansinet-Boulevard“ nannte man die Magistrale der Ausgewanderten. „Sansinet“ wie „Ja, san Sie net der Herr, wie war doch gleich der werte Name?“  

Die Mutter von Henry Kissinger repräsentierte als „Misses K.“ – und die publizistischen Strecken des Helmut K. aus F. wie Fulda wurden immer länger. 1994 kehrte er nach Berlin zurück, mit merklichem Ostdrall. „Die Musik spielte in Mitte.“

 

Herausforderung Bordsteinkante

 

„Berlin, das ist die Welt im deutschen Reagenzglas“, heißt es in „Gehwegschäden“. Von den Fußgängern auf den bizarren Bordsteinen vor der „Rumbalotte“ scheint mancher schon froh bis überfordert, im täglichen Kleinklein über die Runden zu kommen. Kuhn verbreitet sich – mit Körpereinsatz – über die Finessen des Schachboxen und über die Kompetenz des kubanischen Trainers. Kubanisch ist eh die Krönung, wenn es ums Boxen geht. 

Das schreibt der Autor Frantz zu: „Er ist geerdet in seinem Intellectual Fight Club, dieser Freimaurerloge unter der Stadt“. In der Zwischenzeit erklärt eine Jana am Nebentisch: „Vor Publikum kaufe ich keine billigen Weine“. Mit ihrem Satz könnte sie in „Gehwegschäden“ Karriere machen, als noch eine studierte Solistinnen in prekärer Selbständigkeit. Ich sehe sie förmlich im Gatter der Regale, in rigoroser Konkurrenz mit dem Ich-Ideal. Sonst bietet sich auch kein Gegner an, so gleichgültig wirkt sich der öffentliche Raum aus. 

Kuhns Mutter war bei der Kripo Kommissarin, ein Großvater beim BND. Der Vater, ein Chirurg, verschwand spurlos auf einem Törn in der Karibik, (da war Helmut Kuhn vierzehn und in der Form seines Lebens.) Die Story stand im Stern, im Damals der 1970iger Jahre, als man allgemein den Geschichtsverlauf für unumkehrbar hielt, der Kalte Krieg die Welt frösteln ließ und Tod-unter-Palmen-Geschichten gut ankamen. Der Journalist Kuhn recherchierte später dem maritim verschollenen Vater hinterher, es ergab sich ein mörderisches Ergebnis als am Wahrscheinlichsten. Demnach hatte der Skipper in Tatgemeinschaft mit seiner Geliebten einen zeitgemäßen Fluch der Karibik über die Handvoll Männer auf seiner Yacht gebracht. Der Bootseigner war Düsseldorfer Metzger und konnte zweifellos vortrefflich entbeinen. Kuhn spann daraus den akkuraten Seemannsgarn „Nordstern“, seine erste Einzelveröffentlichung (bei Mare).  Es folgten Erzählungen, „Regen im 5/4 Takt“ … „ Arm, reich – und dazwischen nichts? Streifzüge durch eine veränderte Gesellschaft“. 

 

K.O. in Klagenfurt

 

Außerdem Klagenfurt. 2005 trieb man Kuhn beim Ingeborg Bachmann-Wettlesen „in die Seile“, wie der Autor sagt. Er stand kurz vor der Hinrichtung, so wenig gefiel Kuhn der Kritik. Mit Murat Kurnaz veröffentlichte er „Fünf Jahre meines Lebens. Ein Bericht aus Guantanamo“. 

Kuhn erinnert sich an einen Co-Autor mit abgründigem Humor. Seelisch unverwüstlich: „Der Murat ist nicht zu knacken.“ 

Mit Cem Gülay brachte er ein Handbuch für die Gangsterkarriere heraus: „Türken-Sam“. Noch in diesem Herbst soll die nächste literarische Kollaboration mit Gülay verbrochen werden, „Kein Dönerland“ als „Antwort auf Sarrazin“, wie Kuhn lapidar meldet. Gerade werden wir von asiatischen Schlümpfen unterbrochen, offenbar halten sie uns für von hier. Wir könnten gut und gern Opfer sein, lebende Leichen der Gentrifizierung, die im designten Biomüll vor der verlorenen Heimat kampieren, aus nostalgischen Gründen. Vielleicht blüht uns das nach dem nächsten Abschwung, aber jetzt geht Kuhn erst mal ins Training – und ich habe mir noch den Sodaclub in der Kulturbrauerei vorgenommen. 

„Gehwegschäden“ von Helmut Kuhn, Frankfurter Verlagsanstalt, 22,90 Euro.



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1 Kommentar

Gab Horn 5. Januar 2024 at 11:20

Lange habe ich nicht so ein gutes Buch gelesen wie “ Gehwegschäden“. Habe während des Lesens manchmal gedacht, “ wow, das kann sich doch keiner ausdenken… wie großartig. “
Diese super verdrehtaberrichtigrum kreative politisch korrekte Schreibe!! Ja nochmal mega kreativ, eigentlich die Quelle von Kreativität in Worten, eben nicht gewollt kreativ, sondern echt krea. Wo kann man bei diesem Mann denn Kurse machen?? Danke für eine Antwort. Sie können meine Nachricht natürlich auch gerne an den Autor weiterleiten.

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