Wodka wird nicht aufgehoben

von Jamal Tuschick 5. März 2012

Unser Gastautor Jamal Tuschick ist neu in Berlin, streift durch die Stadt und schreibt. Dabei wagt er sich auch mal über die Grenzen Prenzlauer Bergs hinaus. Zur alkoholischen Lesung zum Beispiel in die Grenzregion nach Mitte ins „Naherholung Sternchen“.


Alles Geschichte, so wie das Hotel Berolina an der Karl-Marx-Allee. Aufgezogen als kolossaler HO-Schuppen anno 1964. Das muss man wissen, denn für die amtierende Architektur vor Ort wurde das sozialistische Gepräge in Schutt gelegt. Auch das „Naherholung  Sternchen“ an der nächsten Ecke, namentlich Berolinastraße 7,  bespielt Flächen eines Bierlokals mit vergangenem Hauptstadtflair und mancher Story als Stasi-Entspannungszone.

Inzwischen und schon länger trifft da eine Troika gastronomische Entscheidungen, „die zur kulturellen Bereicherung der verödeten Mitte“ angetreten ist. So elementar äußert sich der Schweizer Philipp, den die Liebe von Zürich nach Berlin verschlug. Folglich heißen die Kühlschränke „Liebe & Sex“, die Kolleginnen heißen Miriam und Katharina. Miriam stammt aus der Stadt des Simplicissimus, nicht dass jetzt einer Gelnhausen mit Grimmelshausen verwechselt. Die S-Schleife der südlichen Hessen wickelt sich ins Ohr, das gehört zum Aufmarsch deutscher Mundarten in der „Naherholung“. Es fehlt eigentlich nur der Berliner in seinem eigenen Verbreitungsgebiet … unter einem nostalgisch illuminierten Kneipenhimmel.

 

„Russland ist das Unbewusste Europas“

 

Die sozialistische Patina existiert noch als Idee, der Autor des Abends ist wiederum Franke. Eine Probe seiner Dialektfestigkeit hat Jörg Dauscher schon gegeben. Für Miriam war Berlin „die nächste Stadt“ gewesen, für Jörg Dauscher findet gleich die erste von drei „Alkoholischen Lesungen“ statt. Dazu hat er sich Russland vorgenommen, ansonsten arbeitet er in dem „Weinladen“ in der Simon-Dach-Straße.  Der Schauplatz seines getränkten Vortrags beschreibt ein L im Grundriss. Gewaltig aufrauschende Vorhänge geben der Aussicht keine Chance. Das John le Carré-Gefühl bleibt vor der Tür auf der Strecke. Kein Spion kommt aus der Kälte in die Kneipe, um Jörg Dauscher zu beobachten, wie er da sitzt vor einem Flasche Stolichnaya, die einer Vase Gesellschaft leisten und so auch einer Stehlampe von der Oma aus dem kapitalistischen Ausland aus dem Jahr 1958. „Russland ist das Unbewusste Europas“ erklärt der Autor, „das lässt sich schlecht zusammenfassen“. Er liest aus „Der Sommer in K.“, das ist eine dörfliche Bestandsaufnahme, beinah mit journalistischen Mitteln.

Kein Satz will bestechen und sich im Verband der Sätze auftürmen zu einer Überwältigungsprosa. Jörg Dauscher baut auf Genauigkeit, sein Erzählzug fährt auf Nebenstrecken. „Bauern sind Leute, die viel Sorge tragen“, sagt er. Er hat die volle Aufmerksamkeit eines beachtlichen Auditoriums. Teil nimmt es an einer Wodka-Séance, lebenslang getrennt von den Verschmelzungen jedes Vorher und Nachher in den Prozessen der privatisierten Landwirtschaft im Kreis Krasnogorodsk, „unweit der lettischen Grenze“. Jörg Dauscher spürt den Wirkungen des Wodkas nach, sein Publikum trägt sie mit ihm aus. Nun wird der Tresen zur Anlaufstelle für die Tanzberliner, die erst in der Russendisco aprés zu ihrem Vergnügen zu kommen gedenken. Die Frontiers an der Borderline zwischen Club und Nacht wollen Konserven. Wohl nur aus Höflichkeit hören sie der „Banda“ zu, die in den Unterbrechungen desVortrags nicht nur russisch klingen.  

 

„Sobald die Flasche ins Spiel kam, bezeugte man ihr Respekt“

 

„Die haben zu wenig Wodka getrunken“, findet Jürg Bariletti aus der Ostschweiz. Der Experimentalmusiker hat diese Herkunftsbeglaubigende alpine Statur  … eine dezente Urwüchsigkeit und ein elektroakustisches Labor. Klaviere sticht er mit Stricknadeln. Solchen Leuten begegnet man in der „Naherholung Sternchen“, während Jörg Dauscher überliefert: „Sobald die Flasche ins Spiel kam, bezeugte man ihr Respekt“. Er memoriert die Litanei der Trinksprüche und all dies und das, was für und wider der guten Sitten ist. Er weiß: „Wodka wird nicht aufgehoben“. Man spült mit geräuchertem Fisch nach, gewissermaßen. So wirkt der Autor als Russischlehrer der besonderen Art. Ohnehin glaubt er, dass Russland bereits in der Uckermark beginnt, zumindest landschaftlich. Er spricht so als Heimkehrer am Tresen, „Die Banda“ spielt noch das Lied von dem Eulen liebhabenden und fatal am Galgen endenden Bauern. In Russland mag der Verstand vor dem Raum kapitulieren, in der Naherholung ist immerhin Raum genug für einen russischen Rausch. Fast unter geht die Zugabe im elektronischen Aufwasch und dem Anlagengewitter, schließlich soll auch noch getanzt werden. 

Die 2. Alkoholische Lesung findet am 29.03. statt, „Naherholung Sternchen“, Berolinastr. 7, 10178 Berlin, www.naherholung-sternchen.de

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