Wie fühlt es sich an, nicht mehr sehen zu können? Im Dunkelrestaurant Nocti Vagus kann man einen kleinen Eindruck vom Leben blinder Menschen bekommen und dabei seine verbliebenen Sinne schulen.
Es ist so dunkel, dass man die Hand vor Augen nicht sehen kann. Dennoch versuchen die 40 bis 50 Gäste des heutigen Abends in vollkommender Finsternis zu essen. Keiner weiß, wo genau das Essen auf dem Teller liegt. Doch mit Gabel und Messer tasten sie sich vorsichtig heran, schneiden viel zu große oder kleine Stücke ab und versuchen diese anschließend ohne zu Kleckern in den Mund zu führen. Man isst viel langsamer als normal und schmeckt viel intensiver die einzelnen Zutaten der verschiedenen Gerichte. Auch der Geruchs- und Hörsinn werden plötzlich viel stärker genutzt. Was für blinde Menschen vollkommen normal ist, ist für Sehende ein großes Abenteuer. Im Dunkelrestaurant Nocti Vagus kann jeder für ein paar Stunden in die Welt der Blinden eintauchen.
Vor knapp zehn Jahren wurde das Nocti Vagus in der Saarbrücker Straße eröffnet. „Die Inhaberin Simone Glosch ist damals auf die Idee gekommen, als sie in Hamburg die Ausstellung ,Dialog im Dunkeln‘ besuchte“, erzählt Maja Kunzelmann, Kulturmanagerin des Restaurants. In der Schweiz habe Glosch außerdem im ersten Dunkelrestaurant der Welt gegessen. „Von dieser für sie neuen Welt war sie so fasziniert, dass sie auch in Berlin ein solches Restaurant in Kombination mit einer Dunkelbühne eröffnen wollte“, so Kunzelmann. Das Nocti Vagus, das zu Deutsch „Nachtschwärmer“ oder „Nachtwandler“ heißt, sei nicht nur das erste Dunkelrestaurant Berlins, sondern auch die erste Dunkelbühne der Welt. Bei der Wahl der Lage habe man sich bewusst für Prenzlauer Berg entschieden. „Wir schätzen die kulturelle Vielfalt im Kiez und die außergewöhnliche Entwicklung, die er genommen hat“, sagt Kunzelmann.
Über die Lichtschranke gelangt man in eine andere Welt
Wer im Nocti Vagus essen möchte, muss zuerst in der Lounge eines von drei angebotenen Menüs auswählen und wird dann in den Keller in die sogenannte Lichtschranke geführt. Dieser Raum ist der Übergang zwischen der sehenden und blinden Welt und soll verhindern, dass Licht in das völlig abgedunkelte Restaurant fällt. Aus diesem Grund dürften auch keine Handys und fluoreszierenden Kleidungsstücke wie beispielsweise Uhren getragen werden, sagt Kunzelmann.
Im eigentlichen Dunkelrestaurant angekommen, wird man von einer Bedienung zum Tisch geführt. „Wichtig ist, dass man seine Tasche und auch die eigenen Beine unter den Tisch stellt. Ansonsten würden die Kellner darüber fallen“, erklärt die Kulturmanagerin. Je nach Auslastung des Restaurants sei jeder der Kellner für vier bis sechs Tische zuständig. Zu deren Aufgaben gehört es nicht nur, das Essen und die Getränke zu servieren, sondern sie helfen auch, wenn man beispielsweise auf die beleuchtete Toilette gehen will. In diesem Fall muss man nur den Namen der Servicekraft und die eigene Tischnummer rufen, damit einem geholfen wird.
Bodenbelag als Orientierungshilfe
„Orientieren können sich die Kellner am Bodenbelag“, erzählt Restaurantleiterin Astrid Gonszak. Die Hauptwege des Restaurants sind mit Teppich ausgelegt und unterscheiden sich somit vom restlichen Untergrund des Raumes. Zudem ist am Tisch eine weitere Markierung zur Orientierung angebracht. „Somit wissen sie immer, an welcher Stelle des Tisches sie sich befinden“, sagt Gonszak.
Auch die Besucher lernen nach einer kleinen Eingewöhnungszeit, besser mit der Dunkelheit umzugehen und sich mithilfe der restlichen Sinne zu orientieren. Wann konzentriert man sich schon einmal so aufs Hören, Fühlen oder Schmecken? Auch Gonszak kennt die Eindrücke und Ängste ihrer Gäste. „Viele stellen sich das Essen viel schwieriger vor. Am Ende haben sie aber keine oder nur wenige Flecken auf ihrer Kleidung“, sagt sie.
Showprogramm von sehenden und blinden Künstlern
Neben dem mehrteiligen Abendessen gibt es an diesem Abend auch eine Gruselshow, das „House of Battlemore“. Mit einer Kombination aus Spukgeschichte, fluoreszierenden Händen und Köpfen, erschreckenden Berührungen und angsteinjagenden Geräuschen werden die Gäste knapp 45 Minuten unterhalten – bis der Angstschweiß ausbricht.
Bis zu 70 Gästen bietet das Dunkelrestaurant jeden Abend Platz. „Die eine Hälfte der Besucher kommt aus Berlin, die anderen sind Touristen aus den verschiedensten Ländern der Welt“, meint Kunzelmann. Besonders viele ausländische Gäste kämen aus Dänemark und anderen Teilen Skandinaviens, aber auch dem englischsprachigen Raum, sagt Isa, der im Nocti Vagus kellnert.
Montag und Dienstag finden die sogenannten Schnupperabende statt. An diesen Tagen wird nur im Dunkeln gegessen. An allen anderen Abenden gibt es zusätzlich ein täglich wechselndes Bühnenprogramm, das von sehenden und blinden Künstlern gestaltet wird. Zur Auswahl neben dem Gruselprogramm etwa ein Krimi-Diner oder eine erotische Lesung. Beliebt sind auch Abende mit Live-Musik. Die blinde Sängerin Joana Zimmer ist hier bereits aufgetreten.
Integration Blinder und stark Sehbehinderter in die Arbeitswelt
Neben der Einführung der Sehenden die die Welt der Blinden ist das Nocti Vagus auch um die Integration Blinder und stark Sehbehinderter in die Arbeitswelt bemüht. Zehn blinde und stark sehbehinderte Mitarbeiter beschäfigt es. Eine von ihnen ist etwa Restaurantleiterin Gonszak. Die ausgebildete Kauffrau arbeitet bereits seit 2002 im Restaurant. Auf dem rechten Auge ist sie blind, auf dem linken Auge kann sie nur wenig sehen.
Ein Abend im Nocti Vagus kostet zwischen 59 und 69 Euro pro Person, am Schnupperabend sind es 39 Euro. Die hohen Kosten erklärt Kunzelmann mit der Vielzahl an Kellnern, die sich im Vergleich zu anderen ‚normalen‘ Restaurants viel intensiver und um eine kleinere Anzahl an Gästen kümmern.
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