Bei Schnee kein Zugang

von Thomas Trappe 23. Januar 2012

Nebenstraßen in Prenzlauer Berg sind für Rollstuhlfahrer im Winter Tabu. Viele können bei Schneefall die Wohnung gar nicht erst verlassen.

Für Carmen Olivar ist der Winter bisher ein guter und das liegt vor allem daran, dass es kein echter Winter ist. Die Geschäfte in den Prenzlauer Berger Nebenstraßen, die abgelegenen Kinos, und alles andere, was sich nicht an den Hauptverkehrswegen findet: Es ist für Carmen Olivar noch erreichbar. Die Hoffnungen vieler Prenzlauer Berger, der Winter möge sich bald durch ausgiebigen Schneefall auch als solcher präsentieren, vermag die 50-Jährige jedenfalls nicht zu teilen. Sie ist Rollstuhlfahrerin und Schnee bedeutet für sie nach den Erfahrungen der letzten Jahre, dass der Kiez für sie weitgehend unerreichbar ist.

Schneefall ist in der Stadt meist nur im Moment des Flockenflugs romantisch, ziemlich schnell kann man meist nur noch von einer ekelhaften Masse auf den Straßen sprechen – für die Meisten eher ein ästhetisches Problem, für Behinderte dagegen ein gravierendes. Carmen Olivar, die wegen einer Muskelschwund-Erkrankung auf einen Rollstuhl angewiesen ist, geht es da ähnlich wie vielen anderen Prenzlauer Bergern mit Mobilitätseinschränkung. „Vor allem in den Nebenstraßen komme ich kaum voran, wenn es geschneit hat.“ Entweder seien die Wege gar nicht geräumt – oder eben nur auf einer Breite von einem Meter, je nach Stadtlage. „In dieser Zeit muss ich dann einfach auf Einiges verzichten.“

 

Mehr als 700 Ordnungswidrigkeitsverfahren

 

Wie viele Wege in Prenzlauer Berg nicht von Schnee beräumt werden, darüber gibt es keine konkreten Zahlen. Detlef Thormann, Behindertenbeauftragter des Bezirks Pankow, räumt aber auf Anfrage ein, „dass das in der Vergangenheit sicher oft etwas unzureichend ablief“. Aus einer Anfrage in der Bezirksverordnetenversammlung, sie liegt allerdings schon zwei Jahre zurück, geht hervor, dass im vorletzten Winter 720 Ordnungswidrigkeitsverfahren im Bezirk eingleitet wurden wegen unzureichend geräumter Wege auf öffentlichen Wegen.

Carmen Olivar versucht in solchen Fällen auf den Hauptverkehrsstraßen unterwegs zu sein, wo die Abwesenheit von Bordsteinen, abgesenkte Übergänge und vor allem eine halbwegs durchgängige Räumung das Fortkommen ermöglichen. „Aber im Kiez mag ich ja vor allem die vielen kleinen Geschäfte, und dafür muss ich weg von den großen Straßen. Im Winter bleibt mir dann oft nichts anderes übrig, als darauf zu verzichten.“ Auch zu enge Schneegassen hinderten sie oft an Abstecher in die Seitenstraßen. „Ich muss leider immer davon ausgehen, dass ein paar Fußgänger keinen Platz machen und ich mit dem Rollstuhl in den Schnee ausweichen muss. Es sind ja nicht alle Menschen nett.“

 

Einfach „beschissen“

 

Anke Mechler von der Behindertenvereinigung Prenzlauer-Berg schätzt, dass in Prenzlauer Berg rund 50 Prozent der Wege beräumt werden, die Situation für Behinderte sei dann schlicht „beschissen“. Im vergangenen Winter sei sie persönlich viermal gezwungen gewesen, einen Arzttermin abzusagen, da sie nicht vor die Tür konnte. Faustregel sei: „Wenn es zwei Tage in Folge schneit, bleibt man am besten zuhause.“ In solchen Fällen sei es praktisch, dass manche Supermärkte einen Lieferservice anbieten – aber der sei auch teuer.

Besonders anstrengend, findet Mechler, sei die Situation in der Gegend um den Thälmann-Park, wo sie selbst ihre Wohnung hat. „Da es dort nur wenige Wohnhäuser gibt, ist auch nur sehr lückenhaft Schnee geräumt.“ Ob es in Prenzlauer Berg schlimmer ist als in anderen Stadtteilen, wisse sie nicht. „Ich werde mich hüten, bei Schnee in andere Kieze zu fahren. Da kenne ich ja niemanden, der mir notfalls helfen könnte.“

Der Behindertenbeauftragte Thormann verweist darauf, „dass für blinde Behinderte die Situation noch schlimmer ist“. So würden viele Räumdienste übersehen, dass möglichst nicht gerade Ampeln mit Schneebergen zugeschoben werden sollten – da dann die Blindentaster nicht mehr erreichbar sind.

 

 

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