Der unsichtbare Nachbar aus Vietnam

von Thomas Trappe 9. Dezember 2011

An jeder Ecke: Vietnamesen gehören zum Straßenbild in Prenzlauer Berg. Das war mal anders. Ein Gespräch mit der Journalistin Susanne Harmsen über Menschen, die zu DDR-Zeiten regelrecht versteckt wurden. 

Vietnamesen waren zu DDR-Zeiten die mit Abstand größte Ausländergruppe in der Republik. Knapp 60.000 sogenannte Vertragsarbeiter wurden im Laufe der 80er geholt. Zum Vergleich: Mit 5.000 Arbeitern waren Mosambikaner die zweitgrößte Migranten-Gruppe.

Auch in Prenzlauer Berg arbeiteten viele Vietnamesen. Belegt sind 300 Angestellte in dem Textilbetrieb „Treffmodelle“ in der Greifswalder Straße. In anderen Betrieben des Kiezes arbeiteten wahrscheinlich ebenso Vietnamesen, Dokumente darüber existieren allerdings nicht. Susanne Harmsen ist freie Hörfunkjournalistin und recherchiert seit 20 Jahren fortlaufend zu der Lebenssituation von Vietnamesen im Nachwende-Berlin.

 

Frau Harmsen, warum holte die DDR damals Arbeitskräfte aus Fernost?

Sie wurden gebraucht für Tätigkeiten, die in der DDR keiner machen wollte. Das waren meist stupide und mechanische Tätigkeiten, die mangels Technik per Hand erledigt werden mussten. Im VEB „Treffmodelle“ mussten massenweise Ärmel angenäht werden, zum Beispiel. Fließbandtätigkeiten waren auch typische Beschäftigungsfelder. Dabei waren die Arbeiter sehr gut ausgebildet. Ich kenne eine vietnamesische Tierärztin, die in Berlin am Band stand – nicht untypisch.

Konnte so im Betrieb die vielbeschworene Völkerfreundschaft verfestigt werden?

Sicher nicht, im Gegenteil. Vietnamesen kamen Brigadeweise und blieben dann in aller Regel unter sich. Der einzige Kontakt zu Einheimischen war vielleicht der zum deutschen Vorarbeiter. Tagsüber war man im Betrieb zusammen, abends dann im Wohnheim. Die Unterkünfte wurden vom Betrieb gestellt und von einem Pförtner bewacht. Also auch dort kein Kontakt zu Einheimischen.

Warum war das so restriktiv?

Man wollte Arbeiter, keine neuen Mitbürger. Und auch Vietnam war sehr darauf bedacht, dass sich die Gastarbeiter nicht in der Fremde eingewöhnen und dann vielleicht nicht zurückkommen.

 

Raus aus dem Schattendasein

 

In Prenzlauer Berg arbeiteten zwar viele Vietnamesen, gelebt haben sie hier aber nicht. Wohnraum war sehr knapp, Unterkünfte gab es dann meist in Plattenbauten, vor allem in Hellersdorf. Im Straßenbild des Kiezes tauchten die Vietnamesen kaum oder gar nicht auf. Sie waren unsichtbar. Nach 1990 änderte sich das schlagartig. 

 

Was passierte, als die Betriebe zusammenbrachen?

Nun ja, mit einmal waren die Vietnamesen da. Man sah sie in den Straßen und wunderte sich: Wo kommen die denn auf einmal her? Auch in ihren Wohnvierteln konnten sie sich jetzt frei bewegen, das war für alle ungewohnt. 

Vor allem war die Situation für die Vertragsarbeiter, deren Vertragspartner weg war, sicher keine leichte.

Es war verfahren und für alle vollkommen undurchsichtig. Die Vietnamesen verließen sich ja auch völkerrechtlich bindende Abkommen. Vor allem beharrte darauf – Vietnam. Das Land hätte es 1990 nicht verkraftet, wenn mit einmal alle Auslandsarbeiter zurückkommen. Es weigerte sich, Leute vorzeitig zurückzuholen. Und Deutschland, das heißt die Bundesregierung West, wollte die Leute loswerden. Keiner wollte sie.

 

In der DDR gepflegte Missverstädnisse

 

Die Situation verschärfte sich. Arbeitslos gewordene Vietnamesen versuchten sich irgendwie über Wasser zu halten, viele verkauften Zigaretten, das böse Wort von der Zigarettenmafia kam auf. Es gab in den frühen 90ern Übergriffe, einen Pogrom in Rostock-Lichtenhagen. Auch in Prenzlauer Berg sehen sich Vietnamesen Feindseligkeiten ausgesetzt.

 

Woher kam diese Aggressivität gegen die Mitmenschen?

Das ist sicher auch in einem in der DDR gepflegten Selbstverständnis zu suchen. Die Regierung holte zwar Vietnamesen als Arbeitskräfte, begründete das aber damit, dass man einem „Bruderland“ helfen will, also die Arbeiter wohltätig aufnimmt. Dass es harte wirtschaftliche Interessen gab, wurde nicht thematisiert. Hauptsache, es entsteht nicht der Eindruck, man mache es wie der Westen und hole sich Gastarbeiter. In der Bevölkerung hatte sich dieses Denken festgesetzt. Als dann Vietnamesen um ihre Existenz kämpften, entstand ein gefährliches Gefühl, nach dem Motto: Erst füttern wir sie durch und jetzt werden wir sie nicht mehr los.

War dieses Gefühl irgendwie begründet?

In keiner Weise. Bis 1995 galt der Grundsatz, dass Vietnamesen ihren Unterhalt selbst finanzieren können müssen, sonst wurden sie ausgewiesen. Jobs gab es für Ausländer faktisch nicht. Das Resultat war, dass sich fast alle selbständig machten, Imbisse, Blumenläden, Einzelhandel. Diese Phase ist bis heute prägend für die Vietnamesen in Kiez. Man muss ja nur eine Straße in Prenzlauer Berg langgehen – die Wahrscheinlichkeit, gleich mehrere vietnamesische Geschäftsführer zu sehen, ist groß.

 

Prenzlauer Berg bleibt für Vietnamesen Arbeits-, nicht Wohnort

 

Heute leben noch rund 6.000 ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter in Berlin, vor allem im Osten. Insgesamt gibt es 12.000 Vietnamesen, Familiennachzügler, Kinder, Vertragsarbeiter aus anderen ehemaligen Ostblockstaaten. Erst seit 1997 wird für Vietnamesen der gleiche Grundsatz angewendet wie schon lange zuvor bei anderen Gastarbeitern in der alten Bundesrepublik. Wer länger als acht Jahre legal in Deutschland gelebt hat und nicht straffällig wurde, darf bleiben. 

Für Prenzlauer Berg gelte auch heute noch, was früher galt, so Susanne Harmsen: Die Vietnamesen arbeiten hier, sie leben aber woanders. Wohnraum ist zu teuer. Kontakt herzustellen hingegen sei heute leichter als damals, sagt die Journalistin. „Ich würde mich sehr freuen, wenn dieser Kontakt von den Deutschen öfter mal gesucht würde.“

 

 

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