„Früher kämpfte man gegen den Vietnamkrieg, heute für einen ruhigen Schlaf“

von Juliane Schader 22. November 2011

Thymian Bussemer hat in seinem Buch „Die erregte Republik“ den Wutbürger analysiert. Im Interview spricht er über die Kastanienallee und Stoppt K21, Bürgerinitiativen, Politiker ohne Vertrauen und Aushänge auf Alpha Centauri.

Bevor sich die Initiative „Stoppt K21“ in der vergangenen Woche aufgelöst hat, hat sie sich über Jahre einen Streit mit dem Bezirksamt um den Umbau der Kastanienallee geliefert. Trotz dieser aktuellen Entwicklung bleibt die Frage: Wer hat denn nun Recht?

Recht haben gibt es da nicht. Es gibt eben ganz unterschiedliche Funktionszuweisungen an die Kastanienallee und ganz verschiedene Vorstellungen davon, was eine gute Großstadtstraße ist: geht es eher um Funktionalität oder um Heimeligkeit? Dazu kommt der für alle derartigen Projekte typische Konflikt um die Streitfrage, ob das Planungsverfahren transparent genug war: Die einen sagen, den ersten Aushang auf Alpha Centauri habe es doch schon vor 3000 Jahren gegeben. Die anderen sagen, davon hätten sie aber nichts mitbekommen. Das steht ja auch etwa bei Stuttgart 21 im Zentrum des Konflikts.

 

Die Fronten in der Kastanienallee sind klar: Das Bezirksamt will bauen, die Bürgerinitiative nicht. Wie findet man da einen Konsens?

Das Bezirksamt müsste bürgernäher sein, die Bürgerinitiative auch übergeordnete Aspekte der städtischen Infrastrukturpolitik in den Blick nehmen. Ein typisches Zeichen heutiger lokaler Protestbewegungen ist ja diese NIMBY-Haltung: Not in my backyard. Vereint sind die Leute in der Verneinung. In dem Moment, wo man es konstruktiv wenden und einen Konsens finden muss, wird es schwierig. Und selbst wenn es konsensuale Vorschläge aus der Zivilgesellschaft gibt, kollidieren diese oft mit den Anforderungen der Verkehrsbetriebe, dem Planungs- und Vergaberecht und ähnlichen Dingen. Es scheint mir schwierig, wie es mitten in der Großstadt bei einer Straße mit einer gewissen Bedeutung gelingen soll, die hyperlokalen Anforderungen der Anwohner mit den weiteren Funktionszuweisungen in Einklang zu bringen.

 

Den Bürgerinitiativen fehlt also der Wille zum Konsens?

So pauschal kann man das nicht sagen. Der Wille zum Konsens ist eins, die Fähigkeit, einen herzustellen, etwas anderes. Im Fall der Kastanienallee habe ich das Gefühlt, dass von beiden Seiten extrem ungeschickt agiert wird. Die Aktivisten müssen sich aber darüber im Klaren sein, dass durch strategische Fehler auch Mitwirkungschancen vergeben werden. Wer 9000 Unterschriften für ein Bürgerbegehren braucht, muss zur Bildung von Allianzen in der Lage sein.

 

Der Trend geht derzeit zum engagierten Bürger, in Prenzlauer Berg hat jede zweite Straße eine eigene Bürgerinitiative. Ist das eigentlich ein neues Phänomen?

Bürgerinitiativen gibt es schon viel länger als den Begriff dafür. In den 1860er Jahren wäre beinahe der Bau der zentralen Kanalisation für Berlin unter Hobrecht an Bürgereinsprüchen gescheitert. Was die Frage aufwirft, wie es wäre, wenn die sich damals durchgesetzt hätten und wir unsere Fäkalien nach wie vor mit Wagen vor die Stadt schaffen müssten. Solche Initiativen hat es immer gegeben, und das ist ja auch richtig so. Die lokale Bürgergesellschaft ist ja ein wichtiges Korrektiv für die richtige Politik in einer Demokratie.

 

Unterscheiden sich die Bürgerinitiativen heute von den Kanalisationsgegnern des 19. Jahrhunderts oder der Anti-Atomkraft-Bewegung der 70er?

Im Vergleich zu vor 20 Jahren erscheinen mir die heutigen Protestbewegungen unpolitischer. Neben stärker politisierte Bürgerinitiativen treten zunehmend Do-it-yourself-Bewegungen zur Nahraumverschönerung. Es ist ja ein Unterschied, ob ich gegen den Vietnamkrieg protestiere oder gegen Tempo 50 auf der Straße, die an meinem Schlafzimmer vorbeiführt.

 

Die Bürgerinitiativen werden also egoistischer?

Nicht alle, aber viele. Dafür gibt es ja auch Gründe. Wir haben auf allen Ebenen einen massiven Vertrauensverlust in die Politik. Diese zieht sich aus der Gestaltung vieler Dinge zurück, etwa durch die Privatisierung des öffentlichen Raums: Den Kommunen fehlt das Geld, diesen selbst zu gestalten, und indem sie diese Aufgabe an private Investoren auslagern, verlieren sie auch die Entscheidungsgewalt. Wenn Sie als Kommune heute noch ein größeres Projekt realisieren wollen, brauchen sie private Investoren, wie man etwa beim Stadtbad Oderberger Straße sieht, wo ohne die finanzmächtige Sprachschule GLS gar nichts läuft. Durch diesen Rückzug der Politik entsteht ein Vakuum, und das wird zum Teil durch private Unternehmen mit höchst eigenen Interessen, aber eben auch durch engagierte Bürger, die alles andere als selbstlos handeln, gefüllt.

 

Runtergebrochen bedeutet das, dass etwa die Aktivisten an der Kastanienallee gar nicht davon ausgehen, dass die Politik sich ausreichend Gedanken gemacht haben könnte, bevor sie den Umbau der Straße beschloss?

Vom Mechanismus her ist das typisch: Man traut der Politik weder die Kompetenz noch ein Interesse daran zu, tatsächlich Gemeinwohl-orientierte Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen. Genau um diese Veränderung geht es mir. Mein Anspruch an die Politik ist, dass sie Entscheidungen im Sinne des Gemeinwohls fällt: Nach intensiver Diskussion aller Aspekte mit möglichst vielen Beteiligten kommt man zu einem Konsens. Wenn das jetzt abgelöst wird durch Formen bürgerschaftlicher Interessensvertretung, die viel Lärm erzeugen und so die Politik vor sich hertreiben können, haben wir das Problem, dass nicht mehr alle einbezogen werden. Es darf nicht sein, dass es Gruppen, die man in der Protestforschung den Wortadel nennt, weil sie relativ viel Zeit und materielle Ressourcen sowie Zugänge zu Eliten und Entscheidern haben, gelingt, ihre eigenen Interessen übermächtig im öffentlichen Raum zu propagieren. Wenn wir den Anspruch haben, im öffentlichen Diskurs alle mitzunehmen, müssen wir mit einer solchen Biotope-Bildung sehr sehr vorsichtig sein.

 

Ist der engagierte Bürger also gut oder schlecht für unsere Demokratie?

Der engagierte Bürger ist natürlich essentiell. Die Frage ist, ob er als Bourgeois oder als Citoyen agiert. Der Bourgeois engagiert sich, weil er materielle Interessen zu verteidigen hat, etwa weil die Preisentwicklung seiner Immobilien ihn treibt. Der Citoyen hingegen empfindet sich als Teil einer staatsbürgerlichen Gemeinschaft und weiß, dass sein Engagement für das Gemeinwohl benötigt wird. Die Frage nach dem Motiv muss man an alles anlegen. Ich habe nichts dagegen, dass Menschen sich für ihre Interessen engagieren. Die Frage ist, wie wir diese Partikularinteressen so organisieren, dass sie eine gemeinwohlverträgliche Politik für alle abgeben.

 

Und wie würden Sie diese Frage beantworten?

Meine Diagnose ist ja nicht totaler Verfall, sondern ich spreche von Blockaden: Die vielen Initiativen sind leider oft kein Anzeichen eines lebendigen demokratischen Gemeinwesens, sondern des gegenseitigen Misstrauens. Dabei gelingt es nicht, die unterschiedlichen Sichtweisen zu synchronisieren. Daher brauchen wir Strukturen der Öffentlichkeit, die eine unaufgeregte Auseinandersetzung über diese Fragen ermöglichen. Wir müssen die Schrillheit und Hysterisierung herausnehmen, und das auf allen Ebenen. Hier gilt Habermas‘ berühmte „Legitimation durch Verfahren“: wenn ein Projekt unter breiter Einbeziehung aller beschlossen worden ist, ist das Ergebnis für die Minderheit erträglicher, als wenn es einfach von der Mehrheit oder der Verwaltung einfach verordnet wird.

 

Thymian Bussemer ist Autor des Buchs „Die erregte Republik. Wutbürger und die Macht der Medien“ und arbeitet im Management eines großen deutschen Industrieunternehmens. Studiert hat er Politik und Kommunikationswissenschaft und war unter anderem persönlicher Referent von Gesine Schwan an der Europa-Universität Viadrina. Seit 2003 lebt er in Prenzlauer Berg.

(Disclosure: Thymian Bussemer war 2008/2009 beruflich mit dem Herausgeber dieser Zeitung verbunden. Dieses Interview entstand unabhängig davon.)

 

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