Malen mit dem Po

von Matthias Heine 2. November 2011

Der Theaterskandal kehrt nach Berlin zurück: Mit einer Inszenierung von Ibsens „John Gabriel Borkman“ im Prater.

Theaterskandale sind in Berlin selten geworden. In den Neunzigerjahren hatte man zu viele davon gesehen und war ermüdet. Als Henry Hübchen in Frank Castorfs „Räuber“-Inszenierung mit einer lebenden weißen Maus rumspielte und das Publikum beschimpfte, regten sich die Tierschützer auf. Als Martin Wuttke in Einar Schleefs „Wessis in Weimar“-Inszenierung seinen Penis durchknetete, regten sich die Jugendschützer auf. Als Thomas Ostermeier in der Baracke ein Stück mit dem Titel „Shoppen & Ficken“ inszenierte, regten sich die Sprachschützer auf. Und als Christoph Schlingensief in einem Prater-Spektakel rief: „Tötet Helmut Kohl!“, regten sich die Kohl-Schützer auf.  

Danach regte sich ein ganzes Jahrzehnt lang überhaupt niemand mehr auf. Die Nullerjahre in Berlin – das war auf der einen Seite ziemlich risikoscheues Theater, auf der anderen Seite ein Publikum, das gewillt schien, sich durch wirklich gar nichts in seiner Coolness erschüttern zu lassen. Doch nun scheint der Theaterskandal in die Hauptstadt zurückgekehrt. Vielleicht ein gutes Omen für das noch nicht allzu alte Jahrzehnt. Das „perverseste Theaterstück Berlins“ hat die BILD-Zeitung im Prater gesehen, wo das deutsch-norwegische Duo Ida Müller (Bühnenbild und Kostüme) und Vegard Vinge (Regie) am Wochenende Premiere mit seiner Inszenierung von Ibsens „John Gabriel Borkman“ hatte. Nun bedeutet solch ein Superlativ in jenem allzeit erregungsbereiten Organ gewiss noch nicht sehr viel.  Doch offenbar überfordert die ausdrücklich erst ab 18 Jahren zugängliche Aufführung auch abgebrühtere Zuschauer. Bei den ersten Vorstellungen im nach Renovierung wiedereröffneten Prater waren am Schluss jeweils nur noch wenige Dutzend Zuschauer anwesend.

 

Abrasiertes Schamhaar und ein Pinsel im Anus

 

Das hat allerdings weniger damit zu tun, dass sich Darsteller bei der Premiere selbst in den Mund urinierten, sich live die Schamhaare abrasierten oder sich einen Pinsel in den Anus steckten, um damit zu malen. Sondern mit der Dauer des Stücks. Die ersten Vorstellungen sollen von sieben Uhr abends bis sieben Uhr morgens gedauert haben. So ganz sicher kann es keiner sagen, weil auch kaum ein Berichterstatter so lange durchhielt.

Der 1971 geborene Norweger Vinge und die Deutsche Müller sind für solch exzessive Zeit-Vernichtung bekannt. Im Mai zeigten sie im Foyer des Praters eine „Berlin-Version“  ihrer bereits 2009 in Norwegen entstandenen „Wildente“, die 14 Tage ohne Unterbrechung lief. Das provozierte damals nur nicht so sehr wie jetzt der „Borkman“, weil die Aufführung  von vornherein gar nicht den Anschein erweckte, man würde hier einen normalen abgeschlossenen Theaterabend zu sehen bekommen. Das Spiel fand in einem aquarienartigen Glaskasten statt und jedem Zuschauer war es freigestellt, lediglich so lange zuzusehen, wie er es aushalten konnte und wollte. Das ist nun zwar auch so – man kann die Aufführung verlassen und sich Hot Dogs, Ingwersuppe und Getränke holen – aber das macht die Sache für viele, die einen halbwegs „normalen“ Ibsen erwarten, offenbar nicht weniger irritierend. 

 

„Kein Abend ist wie der andere“

 

Ausgedehnt werden die Ibsen-Aufführung von Müller und Vegard nicht nur dadurch, dass einzelne Sätze bis zum Wahnsinnigwerden wiederholt werden. Sondern schier jeder Satz und jedes Wort wird mit einer Fülle von assoziativen Szenen illustriert, die Licht auf die vermeintlichen psychologischen Abgründe der Figuren werfen. Vieles davon wird auf der Bühne improvisiert, weshalb die Künstler (mehr als 40 Darsteller listet der Programmzettel auf) versprechen: „Kein Abend ist wie der andere.“ Unter anderem hat die taz beobachtet, dass „ein ganzes Bataillon“ Senioren von Regisseur Vinge (er selbst spielt den Borkman) als Amokläufer niedergestreckt wird, BILD berichtet von vier Soldaten, die Borkmans Frau Gunhild vergewaltigen. So was kann natürlich dauern.

Bereits als man 2009 zum ersten Male außerhalb Norwegens von Müller und Vinge hörte, ging es um Zeit. Beim Festival in Bergen, wo die beiden schon einmal die „Wildente“ langwierig tranchierten, ließ Intendant Per Boye Hansen eine Vorstellung am Wochenende abbrechen, weil sich bei der Aufführung nach neun Stunden um 2.40 Uhr immer noch kein Ende abzeichnete. Seine Begründung: „Es wurde immer noch der erste Akt gespielt. Und für die Nachbarn war es zu laut.“ Für die restlichen fünf Vorstellungen verpflichtete Hansen die Künstler darauf, spätestens um ein Uhr Schluss zu machen. Der Eingriff in die künstlerische Freiheit wurde ein Thema für die Weltpresse. Der Kritiker Reinhard Wengierek, der als einer der wenigen Deutschen beim Bergen-Festival war, beklagte damals allerdings nur eine „bildchenselige Monumentalperformance“ und „die Leere Schlechtregietheaters“. 

 

Müller und Vinge als Botschafter norwegischer Kultur

 

Ibsens Stücke gelten in Norwegen als Nationalheiligtümer, ihre Schändung fast als Sakrileg. Doch offenbar nimmt man im hohen Norden nicht so schnell übel. Das durch Ölgelder reiche Land pumpt einen nicht geringen Teil seines Geldes in die Kunst – und schickte Müller und Vinge als Botschafter norwegischer Kultur nach Deutschland. Zunächst im Rahmen des „Nordwind“-Festivals, wo sie Ende 2009 im Kreuzberger HAU ihre Version von „Ein Puppenheim“ zeigten. Die 2006 entstandene Aufführung war erstmalig auf einem off-off Ibsen-Festival gezeigt worden. Sie ist der erste Teil ihrer Saga mit Stücken des Weltdramatikers. Der zweite Teil war 2008 „Gespenster“, für den sie den norwegischen Kritikerpreis erhielten. Der dritte „Die Wildente“. „John Gabriel Borkman“ ist nun der vierte Streich. 

Sehr wahrscheinlich wird Berlin auch noch mehr zu sehen bekommen: Müller und Vegard sollen – ausgestattet mit einer Basisfinanzierung des norwegischen Kulturrats von 12 Millionen norwegischen Kronen (gut 1,5 Millionen Euro) ein Jahr lang den Prater bespielen. Damit sind sie in die Stadt zurückgekehrt, wo Müller an der HdK studierte, beide sich kennenlernten und erstmals zusammenarbeiteten: Ihre Produktion „Requiem. Ein apokalyptischer Abend“ nach Mozart im Maxim-Gorki-Theater und „Requiem II“ beim „90 ° Berlin“-Festival im HAU blieben 2004/2005 aber weitgehend unbeachtet. Sie mussten offenbar erst nach Oslo gehen, um ihr Thema und ihren Stil zu finden.

Angebahnt hat den Kontakt zwischen der Volksbühne und den beiden Exilanten nach eigenem Bekunden noch der im Herbst 2010 nach nur einem Jahr von Intendant Frank Castorf gefeuerte Chefdramaturg Stefan Rosinski. Um den Prater, die zweite Spielstätte der Volksbühne im ehemaligen Kreiskulturhaus Prenzlauer Berg, war es künstlerisch ein bisschen ruhig geworden, nachdem der Dramatiker und Regisseur René Pollesch nach ca. 25 Inszenierungen dort die Leitung abgegeben hatte.

 

Brave Déjà-Vus, ärgerliche Flops – und ein torkelndes Ufo

 

Das könnte sich nun ändern. Immerhin sah die taz bei „John Gabriel Borkman“ im Prater „das merkwürdigste, radikalste, krasseste, durchleidenswerteste Theaterereignis, das seit Langem zu erleben war“ und attestierte der Aufführung, sie schlage „in diesen eher faden Berliner Saisonauftakt ein wie eine Bombe.“ Der Kritiker der Berliner Zeitung bekannte sich ratlos: „Ich habe schon einiges erlebt, aber noch nicht so etwas zugleich Wildes, zu Tränen Rührendes, Nervtötendes, Schockierendes, Fantasievolles, Schmerzendes, Langweilendes, Ekel- und Besorgniserregendes.“  Die Internetseite „Nachtkritik“ entdeckte „einprägsame Momente“, wähnte die Darsteller aber gefangen in der „Spielhölle“. Die „Berliner Morgenpost“ resümiert: „In die höhepunktarme Theatersaison mit ihren braven Déjà-Vus und ärgerlichen Flops stürzt ‚John Gabriel Borkman‘ wie ein torkelndes Ufo.“ 

 

John Gabriel Borkman von Henrik Ibsen. Prater, Kastanienallee 7-9, Eintritt ab 18 Jahren. Nächste Vorstellungen: Freitag, 4. 11 um 19 Uhr; Sonntag, 6. 11. um 16 Uhr; Freitag, 11.11. um 19 Uhr; Sonntag, 13.11. um 16 Uhr. Karten zu 27 bzw 14,50 Euro sind hier erhältlich. 

 

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