Was ist Melancholie heute? Darum geht es zurzeit nicht nur bei Lars von Trier, sondern auch in einer Ausstellung im Projektraum „Lage egal“.
„Melencholia und Melanchronia“ – das klingt verdammt nach Lars von Trier. Nach „Melancholia“, seinem neuen Film, in dem ein gleichnamiger Planet demnächst mit der Erde kollidieren wird. Und tatsächlich: In der aktuellen Ausstellung im Projektraum „Lage egal“ herrscht ebenfalls Weltuntergangsstimmung. Schwarz, weiß, grau sind die vorherrschenden Farben bei fast allen Exponaten, die ebenfalls grau gestrichene Wand verbreitet zusätzliche Tristesse.
„Er hat uns kopiert,“ sagt Pierre Granoux, und lacht selber über seinen Witz. Granoux gehört zu den Betreibern der Räume in der Danziger Straße, in denen es eine hölzerne Besonderheit zu bestaunen gibt: Ein Modell des kompletten Ausstellungsraums ist in einen großen Tisch eingelassen und kann von den Künstlern nach Belieben bestückt werden. Laut Granoux ist „Lage egal“ deshalb eigentlich gar keine Galerie und auch kein Projektraum. Eher ein Kunstwerk, das von anderen Künstlern bespielt werden kann, ähnlich wie einst Marcel Duchamps tragbares Museum.
Wer ahmt hier wen nach?
Granoux ist nicht nur der Hausherr, sondern auch einer von insgesamt acht Künstlern, die sich in der aktuellen Schau mit der Frage befassen, was Melancholie heute eigentlich ist. Lars von Trier wird dabei von allen souverän ignoriert, die Frage, wer hier wen nachahmt, stellt sich ohnehin nicht wirklich – eine allgemein depressive Stimmung liegt eben, nicht nur für Künstler spürbar, einfach in der Luft. Mal mehr, mal weniger deutlich beziehen sich einige Arbeiten allerdings auf Albrecht Dürers berühmten Kupferstich „Melencolia I“ von 1514 – jene rätselhafte, von allerlei merkwürdigem Gerät umgebene Gestalt in Denkerpose, an der Heerscharen von Kunstexperten seit Jahrhunderten herumdeuteln.
Granoux zitiert das Dürersche Bildinventar am deutlichsten: Auf einem selbstgebauten Regal namens „Melencolia Oder“ arrangiert er beispielsweise eine breite Lampe mit „Melencolia“-Schriftzug, daneben einige Kugeln aus gefärbtem Glas und einen schwarz glänzenden Polyeder. In einer anderen Arbeit namens „Magic Poster“ wimmelt es nur so von „Betenden Händen“, die Gesamtkomposition ist Dürers „Magischem Quadrat“ nachempfunden. Granoux befasst sich seit mehr als einem Jahrzehnt mit Dürers Werk, und wenn man ihn fragt, warum ihn gerade das Thema Melancholie reizt, hat er eine klare Antwort: „Wegen der Finanzkrise. Als Künstler hat man ja immer wenig Geld, aber jetzt verkaufen wir noch weniger. Da wird es bald eng mit unserem schönen Künstlerleben.“
Verschneite Gipfel, tanzende Murmeln und ein Karnevalsteufelchen
Für Christine Berndt heißt Melancholie dagegen etwas ganz anderes. Sie setzt sich in ihren Werken oft mit der Nazizeit auseinander, in ihrer Videoinstallation „Poesie“ (2011) etwa liest eine Greisin aus Poesiealben der 1930er Jahre vor. Das Wiegenlied „Heitschi Bumbeitschi“ war zur gleichen Zeit populär, Berndt platziert es in Form einer kleinen Spieluhr in das Tisch-Modell und stellt dazu in einem Mini-Booklet verschiedene, allesamt schauerliche Deutungsmöglichkeiten vor. Katharina Kritzler zeigt vernebelte Schneegipfel auf retuschierten Schwarz-Weiß-Fotografien, während Marlen Wagner in ihrer dreiteiligen Fotomontage „colour the death“ (2011) ein Karnevalsteufelchen auf einem Friedhof präsentiert. Bei Ricarda Mieths kinetischer Soundinstallation „it’s swings and roundabouts“ (2010/2011) schließlich handelt es sich um einen Plattenspieler, auf dem Murmeln Ringelreihen tanzen – wie kleine gläserne Planeten, die um die Sonne kreisen.
Melancholie: Das galt einmal als Krankheitsbild, den Betroffenen wurde ein Übermaß an schwarzer Galle attestiert. Später verstand man darunter eher einen grüblerischen Daseinszustand, eine zwischen Genie und Wahnsinn changierende Gemütslage, die man gern Künstlern zuschrieb. Seit der Antike spielt sie in vielen bedeutenden Kunstwerken eine Rolle – bei Arnold Böcklin, Caspar David Friedrich, Edvard Munch oder Pablo Picasso. Nicht wenige davon wurden 2005 in der großen „Melancholie“-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie gezeigt. Auch damals stand übrigens Dürers „Melencolia I“ im Zentrum.
Warten auf die Apokalypse
Kurator Robert Krokowski sieht sich deshalb aber nicht als Nachahmer: Melancholie sei ein die Zeiten überdauerndes Thema, mit dem man sich immer wieder unter neuen Vorzeichen befassen könne. Das Wort „Melanchronia“ aus dem Ausstellungstitel ist übrigens eine Eigenschöpfung von ihm; das griechische „Chronos“, die Zeit also steckt darin – ein spielerischer Hinweis auf den Wandel des Melancholie-Begriffs im Lauf der Epochen. Fragt man ihn, wieso er nicht den heute viel populäreren Begriff „Depression“ wählte, verweist er auf Julia Kristevas Buch „Schwarze Sonne“, wonach das Wort „Melancholie“ eher im künstlerischen Wahrnehmungsbereich, „Depression“ hingegen vorwiegend als Beschreibung psychischer Zustände gebraucht werde.
Dass es Melancholie schon immer gab, die Welt aber bis heute nicht unterging, ist ja eigentlich ganz tröstlich. Warten wir also weiterhin auf die Apokalypse. Die Danziger Straße 145 ist derzeit kein schlechter Ort dafür.
„Melencholia und Melanchronia“, noch bis zum 6. November bei Lage egal, Danziger Straße 145. Geöffnet mittwochs bis freitags von 14 bis 18 Uhr u.n.V., Telefon 34660831.
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