200 Tage für 200 Kaffeekränzchen in 200 fremden Wohnzimmern im Winsviertel – Stephanie Quitterer hat sich einiges vorgenommen für die sinnvolle Nutzung ihrer Elternzeit.
Als Stephanie an der Tür klingelt, sortiert Schwarz gerade seine Millionen. Ein ganzer Stapel an Geldscheinen liegt auf dem Tisch, mal steht „50 Millionen“, mal „100 Millionen“ darauf – Reichsmark, versteht sich; gedruckt und in Umlauf gebracht 1923. „Ich habe das Geld geerbt und will es jetzt verkaufen“, erzählt Schwarz. Dann geht er den Kaffee holen.
Schwarz heißt Schwarz, weil er sich mit „Herr Schwarz“ nicht richtig identifizieren kann. Seit 39 Jahren lebt er in der großen Altbauwohnung inklusive Kronleuchter und Schrankwand in der Immanuelkirchstraße, wo Stephanie ihn heute besucht. Sie heißt tatsächlich so, mit Nachnamen Quitterer, und führt unter dem Pseudonym „Rotkapi“ seit einiger Zeit im Internet das Blog „Hausbesuchwins“ – der Grund, warum Schwarz und sie heute hier sitzen und Kaffee trinken.
Denn Stephanie hat eine Wette abgeschlossen, deren Verlauf sie in ihrem Blog dokumentiert. In 200 Tagen will sie 200 Kaffeekränzchen in 200 fremden Wohnungen im Winskiez absolvieren. Seit Juli ist sie damit beschäftigt; Schwarz war einer der ersten, bei dem sie geklingelt und der sie in seine Wohnung gebeten hat. Und nicht der einzige, mit dem sie auch nach dem Besuch immer mal wieder Kontakt hat.
Elternzeit als Zeit für Hausbesuche
Eigentlich ist Stephanie, die man aufgrund ihrer offenen und zugänglichen Art einfach duzen muss, Regieassistentin beim Deutschen Theater. Doch seit vor neun Monaten ihre Tochter geboren wurde, ist sie in Elternzeit. Endlich Gelegenheit, die Idee der Hausbesuche in die Tat umzusetzen, die sie seit ihrem Umzug aus der bayrischen Provinz nach Berlin vor acht Jahren verfolgt.
„Ich wohnte damals in Charlottenburg, und eines Tages habe ich mal beim Nachbarn geklingelt, weil ich einen Korkenzieher brauchte“, erzählt sie. Doch mit der Tür zur Nachbarwohnung öffnete sich auch die zu einer völlig anderen Welt – beim Nachbarn herrschten offensichtlich immer noch die tiefsten 80er. „Ich finde es total spannend, dass sich hinter den immer gleich aussehenden Wohnungstüren völlig andere Universen verbergen.“ Die fixe Idee, einmal einen Blick hinter die Fassaden zu werfen, ließ sie von da an nicht mehr los.
Dazu kam vor zwei Jahren mit ihrem Umzug in die Immanuelkirchstraße die Gentrifizierungs-Debatte. Denn während längst über den Bionade-Biedermeier und die Luxussanierungen des Prenzlauer Bergs gespottet wurde, gab es bei ihr im Hinterhaus noch Wohnungen mit Bad auf der halben Treppe. „Diese Spannweite von Außenklo bis Sauna-Aufzug-Südterrasse fasziniert mich“, sagt Stephanie. Um die Menschen hinter dem Klischee kennen zu lernen, musste sie in ihre Küchen zum Kaffeekränzchen.
Wer kommt unangekündigt vorbei? Doch nur die Zeugen Jehovas
„Ich dachte erst, das sind die Zeugen Jehovas, als ich meine Frau an der Tür diskutieren hörte“, erzählt Schwarz. Als er Stephanie jedoch gesehen und sie kurz ihr Projekt geschildert hatte, musste er sie einfach reinlassen. Nicht zuletzt, weil man einer Frau, die mit Baby und frisch gebackenem Kuchen vor der Tür steht, diese eben nicht so einfach vor der Nase zuschlägt.
„Ich höre oft, dass ich mit Kind harmloser wirke“, meint auch Stephanie. Dennoch findet sie sich selbst manchmal fast aufdringlich, wenn sie mit Baby vor dem Bauch, einem Kuchen in der einen und dem Korb mit Kaffee, Tee und Milch in der anderen Hand bei völlig fremden Menschen auf der Matte steht. „Das sieht ja aus, als wolle ich gleich einziehen“, sagt sie.
Trotzdem haben sie mittlerweile über 80 Bewohner der Immanuelkirchstraße in ihre Wohnungen gelassen. Da sie genau Buch führt, weiß Stephanie, dass Menschen aus dem Hinterhaus einen eher reinlassen als die aus dem Vorderhaus, und dass Erdgeschosswohnungen besonders schwer zu erobern sind. Zu Beginn hat sie im Schnitt 13 Versuche gebraucht, bis ein Kaffeekränzchen zu Stande kam. Mittlerweile ist es einfacher geworden. „Ich kenne Häuser, in denen mir fast jeder öffnet, und andere, in denen einfach niemand bereit ist, mich hereinzulassen“, meint sie.
Am eigenen Küchentisch erzählt es sich leichter
Sitzt man dann erst einmal bei Kaffee und Kuchen in der guten Stube, ist mit dem Erklären des Projektes der Einstieg ins Gespräch leicht gemacht. „Prenzlauer Berg ist zwar der rote Faden, aber meistens geht das Gespräch darüber hinaus“, erzählt Stephanie. In ihrem Blog beschreibt sie später, was sie beim Kaffee erfahren hat über die Lebenskünstler, die seit den 80er Jahren in Prenzlauer Berg wohnen, die jungen Werber, die Mütter, oder den Bundeswehrsoldaten, der mit posttraumatischer Belastungsstörung aus Afghanistan zurückgehrt ist.
Neben der Gemütlichkeit, die so ein Beisammensein mit Kaffee und Kuchen eben mit sich bringe, sei der Ort des Zusammentreffens das Geheimnis ihres Projektes, meint Stephanie. „Normalerweise muss man erst einige Prüfungen des Kennenlernens bestehen, um bei jemandem am Küchentisch zu landen.“ Indem sie einfach klingelt und sich selbst einlädt, nimmt sie die Abkürzung und profitiert dann von der vertrauten Atmosphäre der eigenen vier Wände.
Und was für einen Eindruck hat man von Prenzlauer Berg, wenn man in 80 Wohnungen Kaffee getrunken hat? Einige Bewohner entsprächen auf den ersten Eindruck schon dem Klischee, meint Stephanie. Sie habe aber gelernt, dass es sich lohne, zu differenzieren. „Es ist eine gute Übung, um das Denken in Schubladen sein zu lassen. Ich arbeite daran, überhaupt keinen ersten Eindruck mehr zu haben.“ Bis sie den ersten Schwaben getroffen habe, habe es übrigens an die dreißig Besuche gedauert.
Schwaben-Hass und Mütter-Bashing als Energieverschwendung
„Mein Blick auf das Phänomen Gentrifizierung ist politischer geworden“, erzählt sie noch. Immer wieder lande sie in ihren Gesprächen bei steigenden Mieten, die für viele zur existenziellen Bedrohung würden. Man müsste die Energie, die derzeit in Schwaben-Hass und Mütter-Beschimpfungen gesteckt würde, besser auf die Politiker richten, die etwas verändern könnten. Alles andere vergifte nur unnötig die Atmosphäre. „Man muss den Nährboden untersuchen und nicht das Feindbild.“ Derzeit verliere man sich da in Schattenkämpfen.
Ein nachvollziehbarer Wunsch, aber wer nicht wie Stephanie hinter die einzelnen Türen geschaut hat, für den bleibt es bei diffuser Gentrifizierungskritik. „Ich gehe nach 15 Uhr nicht mehr in den Supermarkt, da draußen sind mit zu viele Zugezogene und Chaoten“, meint etwa Schwarz. Außerdem verstehe er kein Schwäbisch. „Ich bin doch auch zugezogen“, meint Stephanie. Ja schon, sagt Schwarz. „Aber bei Dir ist das doch etwas ganz anderes.“
Der Kaffee ist ausgetrunken und Stephanie muss nach Hause, ihre Tochter von ihrem Mann übernehmen. Sie klemmt sich die Papprolle mit den historischen Stichen unter den Arm, die Schwarz ihr schon beim letzten Besuch versprochen und nun endlich bereitgestellt hat, zieht die vorsorglich ausgezogenen Schuhe wieder an und verabschiedet sich. Als ihr im Treppenhaus eine alte Dame entgegenkommt, grüßt sie sie ganz natürlich. Wie sich das gehört unter guten Nachbarn. Außerdem weiß man ja nie, wer einem bei den noch ausstehenden 120 Kaffeebesuchen bis Januar als nächstes die Tür öffnet.
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