Wie werde ich – wirklich – ein Schwabe?

von philipp 10. August 2011

 

(…Fortsezung von „Wie werde ich ein Schwabe?“ …)

 

 

Das DIY-Outfit

Anders als manche LOHA- und Gentrification-Theoretiker glauben, begreift der echte Prenzlauer Berger Nachhaltigkeit keineswegs als reines Konsumverhalten, oh nein. Aus moralischen Gründen recycelt er Omas Nachthemden oder trägt Karottenjeans auf, die er schon in den 80ern trug, denn die Wegwerf-Mentalität widerspricht seinen schwäbischen Genen zutiefst. Auch Billiglöhne in irgendwelchen Drittwelt-Textilfabriken lehnt er ab, deshalb kleidet er sich am allerliebsten in Unikaten der Marke Eigenbau. Regelmäßig belegt er Näh- und Strickkurse bei „Mama Makada“, im „Nähraum“ oder bei „Loops“ und behängt sich dann mit den mehr oder weniger geglückten Ergebnissen derselben. Bei den Fashion Victims auf der Kastanienallee handelt es sich daher zu 99,9 Prozent um junge Idealisten, die aus reiner political correctness zu Nähmaschine und Öko-Baumwolle greifen. Fortgeschrittene Schwaben kleiden indes nicht nur sich selbst auf diese Weise ein, sondern bieten ihr Selbstdesigntes auf dem Kollwitzmarkt, beim Mauerpark-Flohmarkt oder im eigenen Dawanda-Shop zum Verkauf an, nebst handeingekochter Marmelade und Obst aus dem eigenen Garten (vgl. dazu den Unterpunkt „Der Landsitz“, s.u.). Während sie da sitzen und auf Kundschaft warten, stricken sie gemütlich an einem schicken neuen Teilchen. Oder sie lesen die Zeitschrift „Cut“. Brigitte Preissler

 

Das ironische Fußball-Shirt

Der Familienvater in Prenzlauer Berg hört nicht einfach auf, ein cooler Typ zu sein, wenn die Kinder kommen. Zwar muss das Berliner Nachtleben jetzt häufiger mal ohne ihn auskommen, aber dafür trägt er seine DJ-Kappe und seine Nerdbrille auch noch im Schlaf. Seine ewige Jugend zelebriert er nun mit Kumpels in Fußballkneipen wie der „Schwalbe“ in Stargarder Straße oder dem „Magnet Mitte“. Sein Lieblingsverein ist entweder der Klub, dem er seit seiner Geburt in Westdeutschland die Treue hält, oder der FC St. Pauli – neben dem FC Freiburg der einzige Bioladen-kompatible Fußballverein Deutschlands. Nie würde sich der Prenzlauer-Berger-Fußballpapi aber mit einem ganz normalen aktuellen Kunststoff-Trikot seines Lieblingsvereins zeigen. Es muss ein Baumwoll-T-Shirt sein. Entweder im Retro-Look. Oder besser noch mit irgendeinem ironischen Kniff, der zeigt, dass man mit dem prolligen Kuttenfan, der seit 30 Jahren in der letzten verbliebenen Stehplatzkurve des Heimatstadions in seinen Bierbecher schifft, nicht auf einer Stufe steht. Deswegen erfreuten sich eine Zeit lang die Shirts der Nerd-Fußball-Zeitschrift „Elf Freunde“, auf denen nur die Vornamen von vier legendären Spielern eines bestimmten Vereins standen, sehr großer Beliebtheit. Den Vogel schoss aber neulich der Typ mit dem orangefarbenen pseudoholländischen Hemd ab, auf dem als vermeintlicher Spieler-Namenszug „Vandehärtesten“ geflockt war. Matthias Heine

 

 

Leistungsethosnachweis/ Burnout

Das unbedingt einzuhaltende Nicht-Glotzen (das wir bereits in Teil 1 unseres Ratgebers erörterten) ist die neubürgerliche Variante des kleinstädtischen „Was sollen sonst die Leute denken?“ Sie würden denken, dass man sich zumindest rudimentär für seine Mitwelt interessiert. Man führe dennoch zur Sicherheit stets mit sich: einen Leistungsethosnachweis. Als Nachweis gilt, außer schicken Kindern und Joggen (am besten beides gleichzeitig), auch der Besitz immer klobigerer Autos, die glücklicherweise noch mehr die Sicht auf die Mitmenschen versperren. Eine vage Flucht-Hoffnung verkniffenen Blickes unbedingt auf den nächsten Urlaub vertagen, sofern man sich den gestattet oder leisten kann. Lieber nicht, denn woanders wäre gucken erlaubt und würde Spaß machen. Ach ja, Spaß haben! Weglassen, wenn man hier nicht auffallen will. Oder an die Kinder delegieren, bei denen Spaß haben dann auch eher nach Durchdrehen aussieht. Einen Burnout sollte man schon auch vorweisen können, aber das ist bei Beherzigung unserer Ratschläge kein Problem. Dafür erwarte man dann zwar kein Mitleid oder Schulterklopfen, es begünstigt aber den erwünschten autistischen Gesichtsausdruck. Zum Glück gibt’s hier auch ein paar coole Leute, aber ich vergesse immer, was die tragen und womit die ausstaffiert sind. Cosima Lutz

 

Die Tausche-Tasche

So weit wird es kommen: Das Ordnungsamt lässt Uniformierte rund um Helmholtz- und Kollwitzplatz patrouillieren, und wenn sie einen ohne das obligatorische Accessoire erwischen, wird er angeschnauzt: „Tausche-Tasche vergessen? Dit kann jeder sagen. Sind se mit einem Verwarnungsgeld in Höhe von 20 Euro einverstanden?“ Sie werden aber nicht viele Verweigerer schnappen, denn die Dinger sind schon so gut wie omnipräsent, was bloß nicht so auffällt, weil sie dank austauschbarer und mannigfaltiger Taschenklappen kaum zweimal gleich aussehen. Wegen dieser Wechselmöglichkeiten können die Taschenmacher den Leuten für ein Stück Plastik, wie man es anderswo als Werbegeschenk bekommt, rund 100 Euro abzuknöpfen. Eine geniale Geschäftsidee – geradezu schwäbisch. Immerhin bleibt das Geld im Kiez. Der Laden ist in der Raumerstraße. Matthias Heine

 

Das Diamant-Fahrrad

Der „Zeit“-Kolumnist Harald Martenstein schrieb den Berliner Autoanzündern vor einiger Zeit ins Stammbuch, dass „kein echter Wohlhabender BMW fährt. Wohlhabende fahren Rad.“ In Prenzlauer Berg fahren sie ein Rad, dass auch noch so heißt wie ein teures Schmuckstück: Diamant. Die Räder werden zwar in Chemnitz hergestellt, aber unter dem Label einer Schweizer Firma verkauft. Und Schweizer Produkte sind in Berlin sowieso angesagt. Weil sie oft der immer noch angesagten Retro-Ästhetik entsprechen. In Prenzlauer Berg ist das Diamantenfieber besonders hoch. Die revolutionären Einsatzkräfte müssten hier logischerweise die Diamant-Fahrräder der Wohlhabenden anzünden. Aber brennt ein Fahrrad überhaupt? Zum Kampfradfahren sind die Dinger übrigens eher ungeeignet. Das geht viel besser mit diesen Bikes, die tiefergelegt sind – wie die Hosen ihrer Fahrer. Matthias Heine

 

Der Landsitz

Jeder Mensch, der das Wochenende im Kiez verbringt, ist allein durch diese Tatsache klar als Nicht-Prenzlauer-Berger zu identifizieren. Der echte Anwohner ist dann nämlich auf dem Lande anzutreffen – in einem selbst renovierten, alten Bauernhaus in Brandenburg, in einem aufgemotzten Wohnwagen im Grünen oder einer lustigen 10er-WG irgendwo am See. Seine Sechs-Zimmer-Dachgeschosswohnung ist ihm in seiner Freizeit einfach zu öd; richtig glücklich ist er erst in seiner Pankower Kleingartenparzelle, mit deren Aus- und Umbau er seinen kompletten Jahresurlaub zubringt. Samstags hilft er auch gern im Kiezgarten in der Schliemannstraße bei Jäten mit und diskutiert dabei mit Kreuzberger Exil-Gärtnern über Guerilla-Gardening und zeitgemäßen Bio-Anbau. Die Kinder freuen sich derweil, dass sie sich wenigstens heute nicht wieder zwei Stunden auf dem Helmi-Spielplatz anstellen müssen, nur um mal kurz fünf Minuten schaukeln zu können, und bewerfen einander vergnügt mit Nacktschnecken und armdicken Zucchini (s. Foto). Brigitte Preissler

 

Kinderkleidung von Finkid und Småfolk

Wenn es darum geht, seine Kinder warm und trocken zu halten, vertraut der Prenzlauer Berger Schwabe vor allem Skandinaviern. Jede Mutter und jeder Vater schleppt hier lebenslang eine heimliche Sehnsucht nach Bullerbü mit sich herum. Denn dort – und nicht in Schwaben – hat sich seine wahre Kindheit abgespielt. Und in Bullerbü hätten sie einem Typen, der Jack Wolfskin heißt, sofort als potenziellen Serienkiller von der Dorfpolizei verhaften lassen. Deshalb tragen die echten Prenzlauer-Berg-Kinder unter ihren Finkid-Allwetterjacken (die aber nur nach Finnland klingen – in Wirklichkeit kommen sie aus den USA) T-Shirts und Strampler des dänischen Labels Småfolk. Letztere erinnern mit ihrem Mustern die Mütter und Väter vom Kollwitzplatz auch so heimelig an die Bettwäsche  von Graziela Preiser aus den Siebzigerjahren. Natürlich muss man sich das gute skandinavische Kinderdesign leisten können. Aber in Prenzlauer Berg sind ja bekanntlich alle reich. Matthias Heine

 

Und hier geht es zurück zum 1. Teil „Wie werde ich ein Schwabe?“

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