Das beste Mittel gegen Klischees und Vorurteile: sie breittreten, bis es weh tut. Hier deshalb ein Ratgeber für alle, die dazu gehören wollen – frei nach dem Motto: Gentrify Your Life!
Viele Touristen und potentielle Neu-Berliner, die nach Prenzlauer Berg kommen und sich unauffällig unter die einheimischen Schwaben mischen wollen, sehen sich mit einem schwierigen Problem konfrontiert: Wie schaffen sie es, an den Kiezgrenzen NICHT von der Lifestyle-Polizei aufgegriffen und wegen Verletzung der örtlichen Styling- und Konsumgesetze des Bezirkes verwiesen zu werden? Mit Latte Macchiato-Milchbart und einem Windelpaket unterm Arm ist es längst nicht mehr getan; der Zugereiste benötigt weitere Accessoires, ohne die man sich zwischen Tor- und Ostseestraße nicht blicken lassen kann. Wir haben deshalb eine „Must Have“-Liste zusammengestellt, mit deren Hilfe selbst arglose Erstbesucher mühelos den Zorn der seit dem Pleistozän hier lebenden Ureinwohner auf sich ziehen (vgl. Foto 2 in Bildergalerie) – und somit als echte, rundum durchgentrifizierte Prenzlauer Berger gelten dürfen.
Der Mini
Wahrscheinlich haben Sie gelesen, dass in Prenzlauer Berg alle mit dem SUV zum Biomarkt fahren. Entweder in dem berühmtem „Zeit“-Artikel – der Mutter aller Prenzlauer-Berg-Artikel gewissermaßen – oder in einem seiner zahlreichen Plagiate. Man soll aber nicht alles glauben, was in der Zeitung steht. Der einzige Geländewagen am Helmholtzplatz hat einen „Odin statt Jesus“-Aufkleber – gehört also vermutlich einem Ureinwohner (so nennen sich die, deren Eltern vor 30, 40 oder 50 Jahren aus Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen eingewandert sind). Der Schwabe träumt, wenn er denn überhaupt Automobilfantasien hegt, von einem Mini. Zwar ist dieser zweitürige Kleinwagen völlig familienuntauglich. Aber dass Familien in Prenzlauer Berg oft genug Design über Nutzen stellen, zeigt sich ja auch an der Häufigkeit total unpraktischer Vintage-Kinderwagen. Genau dem gleichen Retro-Stilideal entspricht der Mini mehr als jedes andere Auto. Und obendrein kommt man damit gut in die kleinste Parklücke. Deswegen hat Prenzlauer Berg die mit Abstand höchste Mini-Dichte des ohnehin Mini-verliebten Berlins. Matthias Heine
Beiläufige Joggingklamotten
Dass wir, die publizierenden Schwaben, überhaupt Äußerlichkeiten beschreiben können, zeugt von einer noch nicht völlig gelungenen Integration. Jeder kann doch gerade hier machen, was er will, und fällt nicht auf, solange er dünn genug ist. Denn Regel Nummer eins lautet ja: Bloß nicht hingucken! Mitmenschen muss man selbst dann durch einen haarscharfen Blick an der Schläfe vorbei nichtwürdigen, wenn man auf einer sonst leeren Nebenstraße aneinander vorbeigeht oder -rennt und einer von beiden freundlich guckt. Gucken tun nur die Bier trinkenden Menschen vor der Eckkneipe: Wenn ich in meiner Joggerkluft (Marke: unwichtig; einer der letzten Rückzugsorte vor dem Modediktat, was zählt, ist die Tat) an ihnen vorbeirenne, ich einsam und sie gemeinsam, dann wird heftig aufeinander geglotzt. Aber das ist in Ordnung so, man an-erkennt einander als das jeweils komplett Andere. In Städten, in denen Begegnungen mit verschiedenen (!) Formen des „Fremden“ normaler sind, ist man vielleicht auch neugieriger aufeinander. Wahrscheinlich will man auch einfach nur nicht so genau mit dem eigenen Spiegelbild konfrontiert werden. Cosima Lutz
Das Transport-Bike
Da der Mini viel zu klein ist für die zwei Mindest-Kinder einer Prenzlauer-Berg-Familie und ihre Ausrüstungsgegenstände, muss der ganze Krempel eben anders transportiert werden. Deswegen leisten sich viele Familien hier eines jener Transportfahrräder mit Kastenaufbau vorne, wie sie früher die Bäckerlehrlinge fuhren, als Brötchen und Milch noch morgens vor die Haustür gestellt wurden. Bevorzugter Hersteller ist die holländische Fietsfabrik, die in der Schönhauser Allee auch ein Filialgeschäft unterhält. Das führt zu einem typischen Prenzlauer-Berg-Paradoxon: Für Fahrräder gibt der Schwabe oft mehr Geld aus als für Autos. Dafür findet er aber für sein Transportrad auch schwerer einen Parkplatz als für seinen Mini. Matthias Heine
Die blaue Ikea-Tasche
Der echte Kiezschwabe benötigt den an allen Ikea-Kassen erhältlichen XXL-Shopper nicht nur, um darin seine Billy-Regale nach Hause zu schleppen. Laptop, Wechselgarderobe, Picknick-Liegestuhl, ja selbst der nagelneue pinkfarbene Kugelgrill findet darin Platz, er ist als mobiles Büro sowie als Sitzunterlage auf feuchtem Rasen nützlich. Viele örtliche Kindergärten haben ihn in Dauergebrauch, um bei Ausflügen und Spielplatzbesuchen das komplette Kita-Buddelsortiment, den Jahres-Windelvorrat und ggf. auch gehunwillige, heulende Kinder darin unterzubringen. Während des Fahrradfahrens wird er von den Einheimischen oft mit den Griffen um die Schultern gelegt und als Ranzen genutzt; er bildet damit eine preisgünstige Alternative zum (ansonsten nicht minder schwabentypischen) Kurier-Rucksack. Auch als Regenabdeckung für Fahrrad-Kindersitze eignet sich der praktische 1-Euro-Shopper, allerdings setzt sich in diesem Bereich zusehends auch die wasserdichtere Mülltüte durch. Brigitte Preissler
Zweisprachig erzogene Kinder
Die Schwaben kommen bekanntlich eher selten aus Schwaben. In Wirklichkeit stammen sie, wenn nicht aus Bayern (vgl. Foto), aus Frankreich, Amerika, Dänemark oder Italien. Sie haben hier eine Wohnung gekauft, weil sie in Kopenhagen oder Rom für ihr Geld bestenfalls eine Abstellkammer bekommen hätten, und dann haben sie die dazu passenden Eingeborenen geheiratet. Ihre Kinder erziehen sie im Geist des internationalen Easy Jetsets nach dem Prinzip, dass jedes Elternteil mit dem Sprössling in seiner eigenen Muttersprache redet. Bilinguale Kitas und Schulen sind die erfolgreichste Geschäftsidee der vergangenen Jahre. Deshalb sind in Prenzlauer Berg Kinder, die zwischen zwei Sprachen switchen, die Regel. Leider sind die Eltern noch nicht auf die Idee gekommen, ihren Kindern auch zwei Namen zu geben. Was manchmal zu peinlichen Verständnisschwierigkeiten auf dem Spielplatz führt, wenn das Kind sich mit einem Namen vorstellt, der in der Heimat des ausländischen Elternteils ganz alltäglich ist, hier aber buchstabiert werden müsste. Und buchstabieren lernen auch Prenzlauer-Berg-Kinder frühestens in der Vorschule. Matthias Heine
Teil 1: Wie werde ich ein Schwabe
Teil 2: Wie werde ich – wirklich – ein Schwabe