„Ich bin frohen Herzens hierher zurückgekehrt“

von Cosima Lutz 3. August 2011

Claudius Seidl hält Berlin eigentlich für barbarisch. Doch seit der FAS-Kulturchef wieder in Prenzlauer Berg wohnt, schwärmt er von paradiesischen Zuständen. Also: fast. Eine Art Sommerinterview.

Wir sind in einem Café in der Immanuelkirchstraße verabredet. Claudius Seidl hat sich diesen Treffpunkt genau überlegt: Dort scheine morgens die Sonne, hat er gesagt. Mit den hiesigen Lichtverhältnissen kennt er sich aus, denn er wohnt seit anderthalb Jahren im Winsviertel. Vor wenigen Jahren noch hat sich der Münchner Journalist gemeinsam mit FAZ-Kollegen in der Hauptstadt recht unbeliebt gemacht: mit zwei Büchern über das barbarische Berlin im Allgemeinen und den nervigen Macchiato-Prenzlauer Berg im Speziellen („Hier spricht Berlin“ und „Schaut auf diese Stadt“, KiWi). Am Telefon hatte er schon angekündigt, dass er Prenzlauer Berg nun aber entschieden zu loben gedenke. Er trägt Anzug, grüßt freundlich und lässt sich von der Bedienung widerstandslos duzen.

 

Das mit der Morgensonne war eine hervorragende Idee.

Ja, hier ist’s angenehm. Ich radele immer morgens hier vorbei und denke, eigentlich könnte ich mich hierhersetzen, finde dann aber: Es ist zu früh. Erst mal eine Strecke Wegs hinter mich bringen. Dann bleibe ich komischerweise immer hängen im Café gegenüber des Bodemuseums, wo es tagsüber ganz grässlich ist, aber morgens so gegen neun total angenehm. Habe ich letzten Sommer entdeckt. Und irgendwann merkte ich: Da sitzen die Leute, die ich aus dem Münchner Nachtleben kenne und die mich eh den ganzen Tag begleiten.

 

Muss man dann überhaupt noch hier heimisch werden, wenn sowieso alle Münchner schon da sind?

Wie man’s nimmt. Seit zehn Jahren bin ich in Berlin, aber erst seit zweieinhalb Jahren bin ich ganz und gar hier. Ich bestehe zwar darauf, ein Fremder zu sein und zu bleiben. Aber aus dieser Perspektive sage ich: Ich bin frohen Herzens nach Prenzlauer Berg zurückgekehrt!

 

Hat Ihr Bemühen, zivilisierend auf diese Stadt einzuwirken, wie Sie in Ihrem Vorwort zu „Schaut auf diese Stadt“ schreiben, inzwischen also gefruchtet?

Oh Gott, schwer zu sagen.

 

Schon mal mit Kampfkinderwagenschieberinnen kollidiert?

Denen begegne ich komischerweise nicht. Weil ich morgens zu früh zur Arbeit fahre, um mit ihnen zusammenzutreffen, und abends zu spät nach Hause komme, glaube ich. Die kenne ich nur aus der Zeitung, erstaunlicherweise. Es war ja nicht unbedingt eine Entscheidung für Prenzlauer Berg, sondern dafür, sagen zu können: Toll, zehn Minuten mit dem Radl zur Arbeit, und was für eine schöne Wohnung! Aber ich hatte keinerlei Vorbehalte gegen das Viertel. Ganz im Gegenteil.

 

Das klang in Ihren Berlin-Bashing-Büchern aber noch anders.

Wenn man die leeren Straßen eines Villenviertels wie Nikolassee gerade hinter sich hat, wo ich anderthalb Jahre wohnte, die unendlich langen Wege, Menschen, die kaum etwas sagen über die soziologische Zusammensetzung, denn ich konnte sie kaum kennenlernen, weil die Leute eh nicht auf der Straße sind: Wenn dann das schlimmste Klischee über den Prenzlauer Berg stimmt, dann sag ich ,ja!’ dazu.

 

Warum?

Weil da junge Leute unterwegs sind auf den Straßen, bei den Hippies bei mir gegenüber bekomme ich einen hervorragenden Kaffee, die Läden haben bis mindestens neun Uhr abends auf: Das ist sozusagen paradiesisch im Vergleich zum Villenviertel.

 

Sie schreiben in „Schaut auf diese Stadt, dass Ihnen klar sei, zur Teuerung des Bezirks beizutragen. Und fragen dann, ob der Berliner wolle, dass alles zusammenstürze. Gegenfrage: Könnte man nicht auch so sanieren, dass intakte Sozialwohnungen entstehen?

Ich habe dazu keine starken Meinungen. Es interessiert mich wahnsinnig, aber ich habe die Antwort zu meinen Fragen noch nicht ganz gefunden. Auf der einen Seite ist Gentrification etwas Böses, was ich in München zum Beispiel im Gärtnerplatzviertel sehe: Wie ein grattliges (bayrisch für „heruntergekommen, schäbig“, Anm. d. Red.), kleinkariertes, noch nicht mal kleinbürgerliches Viertel so teuer wird, dass kein Mensch mehr, außer wirklich sehr, sehr gut verdienenden Leuten, sich dieses Viertel leisten kann.

 

Und auf der anderen Seite?

Prenzlauer Berg ist insofern kein Musterbeispiel für Gentrification, als dieses Viertel kurz vor dem Zusammenfallen war, im Unterschied zu heute vergleichbar schicken Vierteln in Frankfurt oder Hamburg. Es gab ja fertige Pläne der Ostberliner Behörden, hier ganze Straßenzüge niederzureißen. Aber nicht, weil die DDR so einen schlechten Geschmack hatte, sondern weil sie nicht in der Lage war, zum Aufbau das nötige Kapital aufzubringen. Das leuchtet mir arbeitshypothetisch erst mal ein, dass dieses unfassbar viele Kapital notwendig war, um dieses größte zusammenhängende Altbauviertel zu erhalten.

 

Und trotzdem: auf der anderen Seite?

Die Frage, mit welchen Mitteln man eine größere soziale Heterogenität erhalten könnte, kann ich nicht beantworten. Als Vergleichsgröße habe ich Schwabing, wo mir eine viel größere Heterogenität entgegentritt als hier. Ich habe dort in einem Haus gewohnt mit einem Architekten, einer Filmproduzentin und einem jugoslawischen Gastarbeiter. In einer normalen westdeutschen Stadt ist diese Heterogenität vor allem Folge sehr alter Mietverträge. Aber dadurch, dass ich montags frei habe, erlebe ich, dass es auch hier gar nicht so homogen ist, wie immer behauptet wird. Trotzdem: klar, in dem Haus, in dem ich wohne, sind nur Leute aus meiner Sphäre.

 

Sie kennen Prenzlauer Berg noch aus der Zeit um die Jahrtausendwende. Was haben Sie für Erinnerungen an die Atmosphäre damals?

Ich habe von 2001 bis 2006 in der Stargarder Straße gewohnt, das hat mir sehr gut gefallen damals. Ich hatte den Eindruck, 2001 war nördlich der Danziger noch sehr viel Durcheinander. Man glaubte rund um die Gethsemanekirche noch den Spirit dieses protestantischen Widerstands zu spüren. Es gab übereinandergeschichtete Realitäten.

 

Übereinandergeschichtet?

Ja, wenn man um halb neun aus dem Haus gegangen ist, dann hat man vor allem die wenigen anderen erlebt, die so waren wie ich. Wenn man einen freien Tag hatte und erst um zehn aus dem Haus gegangen ist, hat man plötzlich zwanzig Prozent Arbeitslosigkeit gesehen. Das Haus, in dem ich gewohnt habe, war das erste richtig anständig renovierte Haus da. Natürlich war ich der Vorbote der Gentrification. Aber – (Pause) – Da kann ich auch nichts zu! (lacht).

 

Können Sie die Fremdheit, von der Sie sprachen, etwas genauer erklären?

Es ist eine Fremdheit, die man sich nicht auswählt, eine Fremdheit, die ich zum Beispiel spüre, wenn – Ich bin nicht besonders gläubig, aber die Kirchen hier sagen mir: Du gehörst nicht hierher. Anders war das mit dem geistig-sozialen Leben im Jahr 2001 rund um die Gethsemanekirche. Die unrenovierten Fassaden waren damals wie ein unbeschriftetes Blatt Papier. Daran konnte ich anknüpfen. Ich habe viele Freunde aus Ostberlin, und auch die haben gewissermaßen neu angefangen.

 

Brennende Kinderwägen, „Tötet Schwaben“-Graffiti: Was sagt Ihnen das?

Naja, ein „Tötet-Schwaben“-Plakat ist etwas anderes als ein brennender Kinderwagen. Gerade die „Kampf-den-Kampfradlern“-Plakate betrachte ich mit großer Sympathie.

 

„Kampf den Kampfradlern ist immerhin noch kein Mordaufruf.

Ja, aber: Da braucht’s doch meine Meinung gar nicht dazu. Oder?

 

Eine gelassene Münchner Meinung könnte vielleicht beruhigen.

Naja, das ist halt eine typische Berliner Form von Stumpfsinn. Die Frage ist ja eher: Warum brennen nicht in Hamburg die Porsches? Warum brennen nicht in Paris die Kinderwägen? Und dann sind wir wieder beim Mangel an sozialer Dynamik in dieser Stadt. In normalen Großstädten versucht man halt irgendwie sein Ding zu machen, Leben zu gestalten, weil ja auch die Chancen vor Augen stehen. Wohingegen es mir hier immer so vorkommt: Worum gekämpft wird, das ist das Recht auf Stagnation auf relativ niedrigem Niveau. Ich verstehe natürlich, was diese Leute meinen. Weil ich ja selbst in so einen romantischen, noch nicht vollsanierten Prenzlauer Berg gezogen war. Da gab’s noch so halblegale Kneipen oder Clubs, was schön, schön, schön ist. Aber man kann ja nicht sagen: Okay, jetzt haben wir da unseren halblegalen Club in der Pappelallee, und jetzt schreiben wir den Zustand des Jahres 2002 für alle Zeiten fest.

 

Die Kreativen treten sich hier gegenseitig auf die Füße, aber existiert hier Ihrer Beobachtung nach noch eine Bohème?

Es ist halt die Frage, wie man Bohème definiert. Bohème braucht das Gegenüber ehrbarer, zahlungskräftiger Bürger, gegen welche man sich abgrenzt auf der einen Seite, denen man aber im Idealfall die Werke, die aus der Bohème entstehen, verkaufen kann. Das Gegenüber der müßiggängerischen Bohèmiens sind hier unendliche Massen von Ostberliner Rentnern, von Leuten, die, ganz ohne Bohème zu sein, keiner Arbeit nachgehen.

 

Halten Sie die inzwischen gängige Praxis, aus diesem Bezirk gesamtgesellschaftliche Entwicklungen herauslesen zu wollen, für übertrieben?

Wenn man diese Dynamik der letzten 20 Jahre interessant findet, macht man, glaub‘ ich, nichts verkehrt. Ich trau’ mir nicht zu, zu sagen, ob sich aus diesem Bezirk gesamtgesellschaftliche Entwicklungen ableiten lassen. Aber das ist auch so ein typisches Berlindings, dass man so wenig woanders hingeht. Die allgegenwärtigen Yogaschulen, die gab’s in Schwabing auch schon 1985. Oder dass Leute gerne einen anständigen Espresso trinken, ist etwas, das Berlin erst relativ spät erreicht hat, als man woanders schon den Unterschied wusste zwischen einer dünnen Brühe und einem anständigen Kaffee. Und der Punkt ist da nicht Schnöseligkeit! Ich will ja nicht Sternerestaurants, sondern Leute, die einfach wissen, wie man ein Spiegelei brät. Aber selbst das, oder das extrem niedrige Tempo: Das alles ärgert mich nicht mehr so furchtbar.

 

Würden Sie sich als Prenzlauer Berger bezeichnen, oder ginge das zu weit?

Das ginge entschieden zu weit. Wenn ich es mir aussuchen könnte, dann würde ich mich am liebsten als Ostberliner bezeichnen. Wenn meine Frau und ich Exkursionen machen, dann eher in Ostberlin. Einer von uns fragt dann: „Warst du schon mal in Marzahn?“ Oder: „Hast du eine Vorstellung von Lichtenberg?“ Dann wollen wir gemeinsam hin.

 

Das hat dann aber nichts zu tun mit dem musealisierenden Blick, den Sie oft kritisieren: dass Berlin, speziell der Osten, zu einem großen Besucherpark mutiert?

Naja, wohl schon auch. Also, es wird demnächst so weit sein, dass diese Bierkutschen, auf denen acht Betrunkene sitzen und strampeln, über die Allee der Kosmonauten fahren. Ich will jetzt gar nicht so tun, als wäre das kein touristischer Blick von mir.

 

Sie wohnen im Winskiez in dem Haus, in dem Hans Rosenthal aufgewachsen ist, ein wichtiger Teil der alten Bundesrepublik: Rosenthal moderierte die ZDF-Sendung „Dalli Dalli, jetzt wiederbelebt mit Kai Pflaume….

Daran kann man vielleicht ganz gut meinen sozialen Abstieg sehen. In München habe ich noch in einem Haus gewohnt, in dem mal Thomas Mann gelebt hat, was in seine Erzählung „Der Kleiderschrank“ eingeflossen ist. Das ist vielleicht ganz schlüssig.

 

Claudius Seidl, 1959 in Würzburg geboren, war unter anderem stellvertretender Feuilletonchef der Süddeutschen Zeitung. Seit 2002 leitet er zusammen mit Volker Weidermann in Berlin das Kulturressort der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Er schrieb zahlreiche Bücher, unter anderem gab er die beiden Bände „Hier spricht Berlin – Geschichten aus einer barbarischen Stadt und „Schaut auf diese Stadt – Neue Geschichten aus dem barbarischen Berlin“ (KiWi) heraus. Zuletzt brachte er sich selbst als Kandidaten für das Amt des ZDF-Intendanten ins Spiel.

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