Der Gehör-Gang der Dinge

von Cosima Lutz 25. Juli 2011

Staunen in der Touri-Gruppe – wer es mag. Hörspaziergänge setzen einen Gegenakzent: Sie erschließen Prenzlauer Berg auch Einzelgängern, Paaren und Familien aus dem Kiez.



In manchen Situationen möchte man sich gerne für sich selbst fremdschämen, wenn das ginge: Just in dem Moment, in dem man umständlich den Bio-Einkauf nach Hause schleppt oder sich mit einem Kinderwagenpulk unterhält, fährt ein pink-schwarzer Touristenbus vorbei, und alle Passagiere schauen gleichzeitig auf uns, auf diese Leute in Prenzlauer Berg, wie sie hier so leben und sind.

Klar: Stadtrundfahrten gehören zu einer ordentlichen Berlinreise dazu. Und es könnte ja auch schlimmer sein: Man könnte selbst in diesem Bus sitzen. Was aber tun einzelgängerische Einwohner oder massenscheue Familien, die durchaus bereit für eine Führung wären, gerne auch in ihrem Kiez? Einen eleganten Ausweg versprechen Hörspaziergänge, in denen man alte und neue Stadtgeschichte(n) vor Ort ins Ohr gesprochen bekommt. Und zwar in einem Tempo, zu einer Zeit und mit einer Begleitung, die man selbst bestimmt. Es gibt sie auch für Prenzlauer Berg, seit kurzem sogar mit GPS-Ortung.

 

Das Smartphone als Märchenonkel

 

„Stadt im Ohr“ bietet bereits seit gut zwei Jahren eine Audio-Tour durch Prenzlauer Berg an. Kinder aus der Thomas-Mann-Grundschule erarbeiteten „Der Kater vom Helmholtzplatz“ selbst, das lokale Hörspiel ist vor allem für Kindergruppen und Familien gedacht. Nun mischt hier auch das Start-up-Unternehmen „mobile melting“ mit: Unter dem lyrischen Namen „storytude“ bietet es bislang zehn Apps für Berlin, Hamburg und Frankfurt am Main an, mit denen das eigene Smartphone (sofern man eines hat) „zum Märchenonkel“ wird, so die Eigenwerbung. Zwei Apps führen durch Prenzlauer Berg, sie richten sich vor allem an junge Erwachsene. Noch verkleinert das Endgerät die Zielgruppe: Smartphones besitzen hierzulande vor allem berufstätige (und eher gutsituierte) Männer über 30.

Die Texte und der Duktus der Sprecher sind bei „storytude“ sehr unterschiedlich. Auf dem Mystery-Spaziergang „Triff mich im Dunkeln“ von Frauke Schmickl lauscht man rund um den Kollwitzplatz einer nicht allzu gruseligen, aber immerhin stadtmarketingsprachfreien Spukgeschichte, die nur sporadisch über die Gegend informiert. Von den Profi-Sprechern wurde sie allerdings glatt wie ein Werbeclip eingelesen. Ganz anders dagegen die neueste Tour „Prenzlauer Berg – Romantischer Spaziergang“. Sie startet am Pfefferberg, führt über den Friedhof Sankt Marien und Sankt Nicolai, macht einen Abstecher zum Märchenbrunnen im Volkspark Friedrichshain, folgt der Marienburger Straße und endet nach etwa vier Kilometern am Wasserturm.

 

Walter Benjamin und der Schweinebauch

 

Von Stadtplanerinnen vom Verein „urbanophil.net geschrieben (Julie Köpper und Isobel Egan) und von Laien-Sprechern leicht berlinernd wiedergegeben (Sascha Sengpiehl und wiederum Isobel Egan), klingt das so, als würden Malermeister und Kassiererin mal erzählen, was hier alles so „gewesen“ ist. Sie lenken dabei den Blick auch über die Kiez-Grenzen hinaus: Erklärt wird zum Beispiel, was es mit Walter Benjamins „Passagen“-Werk und dem Begriff „Flaneur“ auf sich hat. Auf Berlinerisch. Doch man bleibt auf dem Boden der baulichen Tatsachen und erfährt etwa, was „Schweinebäuche“ sind, jene Granitplatten auf den unsanierten Gehwegen. Das hat Charme, keine Frage.

Einen Gegenstand „fremd zu machen und doch bekannt und anziehend“, schreibt der Frühromantiker Novalis, „das ist die romantische Poetik“. Ein „Romantischer Spaziergang“ ist das also in jeder Hinsicht, zumal zwischen die städtebaulichen Erläuterungen auch noch eine fiktive Liebesgeschichte geflochten wird. Und ein schönes Spielzeug ist es allemal: Sobald der Spaziergänger einen der 20 Punkte der knapp zweistündigen Strecke erreicht hat, startet via GPS-Ortung mit einem kurzen Vibrieren des Smartphones das nächste Kapitel. Nur in Bewegung löst man den Gang der Dinge aus, und für Spannung sorgt man dabei im Zweifel eben selbst, durch eigene Beobachtung oder – völlig antagonistisch – beharrliches Verlaufen.

 

„Storytude“: nicht ganz so allein

 

Für ihre Idee, Berliner Stadtspaziergänge mit GPS-Ortung zu konzipieren, erhielten die Gründer – neben Lydia Horn sind das Karolina Schilling und Jörg Polakowski – in diesem Jahr den Degewo-Gründerpreis, kurz darauf gewannen sie den „Apps4Berlin“-Wettbewerb. Die 30-Jährige aus einem 100-Seelen-Dorf im Fläming kennt sich hier aus: Zehn Jahre lang wohnte Lydia Horn in der Kuglerstraße.

Die Tourismusexpertin, die für „storytude“ ihren sicheren Marketing-Job bei Air Berlin aufgegeben hat, ist freilich nicht ganz allein auf der Welt mit ihrem Ansatz. Die 2006 gegründete süddeutsche Firma „tomis“ etwa, nach eigener Angabe Marktführer im Bereich der Audioguides, bietet auch für Berlin (aber nicht für Prenzlauer Berg) Führungen an. Sie funktionieren mit dem klassischen Handy, per Anruf, Download, mobiles Internet oder App. Die in der Schwedter Straße ansässige Firma „Global2go“, für die unter anderem der Schriftsteller Albrecht Selge („Wach“, soeben bei Rowohlt erschienen) Hörspaziergänge schreibt, hat noch keine für Prenzlauer Berg im Angebot. Hier geht also noch was.

 

Kiezkundige Autoren gesucht

 

Ohne Zweifel ist „storytude“ noch in der Selbstfindungsphase. Der Bestseller sei bislang eine konventionelle Sightseeing-Tour rund um den Gendarmenmarkt, sagt Lydia Horn. Welche Wege das Label künftig einschlagen wird, um sich zu profilieren? Mit „Stadt im Ohr“, wo man viel Wert auf Interviews mit Einheimischen legt und deren Macher Historiker und Pädagogen sind, verhandele man bereits über eine Kooperation. Aber wer eine Idee für eine Tour habe, könne sich bei „storytude“ melden und mitmachen, versichert sie. Dann aber muss die App erst einmal an Apple gesendet werden – nicht unproblematisch, weiß doch niemand so genau, worauf der Computerriese da im Einzelnen schaut. Apple verdient daran, klar. Aber auch den Autoren winkt eine Umsatzbeteiligung. Lydia Horns Aufruf dürfte im Kiez der mitunter orientierungslosen Schreiberlinge nicht ungehört verhallen.

 

Die Prenzlauer-Berg-App „Romantischer Spaziergang“ (2,99 Euro) kann unter www.storytude.de heruntergeladen werden. Die Tour „Der Kater vom Helmholtzplatz“ von „Stadt im Ohr“ ist ausleihbar, unter anderem im MACHmit!-Museum, Senefelderstraße 5/6 (Dienstag bis Sonntag, 10 bis 17 Uhr, 4 Euro; ein Gerät mit 2 Kopfhörern 5 Euro). Weitere Infos unter 030/ 20 07 88 41 und www.stadt-im-ohr.de.

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