Am morgigen Freitag beginnt das 12. Poesiefestival der Literaturwerkstatt. Festivalchef Thomas Wohlfahrt erklärte uns, was man dort erleben kann – und wie eng die Geschichte der Literaturwerkstatt mit Prenzlauer Berg verbunden ist.
Wer schon immer mal wissen wollte, wie dichten geht, sollte kommende Woche U-Bahn fahren. Am besten auch aussteigen, idealerweise im Bahnhof Brandenburger Tor. Dort werden während des diesjährigen 12. Poesiefestivals Gedichte geschrieben, gelesen und auch performt. Dichter wie Ursula Krechel, Ulrike Draesner oder Hendrik Jackson gehen dort ihrer Arbeit nach, täglich zwischen 10 und 17 Uhr, quasi im Schichtwechsel. Und ja, sie wollen dabei gestört werden: Jeder, der vorbei kommt, kann ihnen zugucken. Ihnen Fragen stellen. Womöglich sogar selbst mitdichten.
„Dichtraum, Denkraum“ heißt diese öffentliche Werkstatt; sie verdeutlicht exemplarisch, worum es bei dem ganzen Festival im Kern geht: Poesie wird nicht als weltabgewandtes Gewurstel sozial gestörter Wortakrobaten verstanden, sondern als öffentliche Handlung, die aus der Gesellschaft heraus und für diese Gesellschaft entsteht. Und als eine Kunst, die keineswegs zwingend an das Medium Buch gebunden ist.
Ist Lyrik tanzbar?
Letzteres zeigt sich zum Beispiel auch bei „Weltklang“, der das Festival eröffnenden „Nacht der Poesie“ im Maxim Gorki Theater. Wie bei einem Konzert sind dort alle Gedichte in ihren Originalsprachen zu hören, in diesem Jahr werden unter anderem der kubanische Liedermacher Silvio Rodríguez und die tschechische Sängerin, Schauspielerin und Violinistin Iva Bittová dabei sein. Eigens für das Festival entstehen Gedichtvertonungen, außerdem wollen die Songwriter PeterLicht, Gustav und Thomas Meinecke beweisen, dass Lyrik tanzbar ist. Ein Schwerpunkt ist auch Dichterinnen und Dichtern aus der arabischen Welt gewidmet.
Nun ist der Hauptspielort des Poesiefestivals in diesem Jahr zwar die Akademie der Künste am Pariser Platz. Der medienübergreifende Ansatz aber hat seine Wurzeln teilweise in Prenzlauer Berg. Nicht nur, weil die Literaturwerkstatt heute eben hier sitzt, auf dem Gelände der Kulturbrauerei. Sondern vor allem, weil Thomas Wohlfahrt mit seiner interdisziplinären Arbeit auch Verfahren weiterentwickelt, die schon während der 80er Jahre in der hier ansässigen Untergrundszene verbreitet waren.
So wie sich Literatur hier vor der Wende oft mit Kunst, Film, Fotografie, Musik und anderen Disziplinen verband, stehen in der Literaturwerkstatt auch heute die medienübergreifenden Formen von Poesie im Mittelpunkt. Freilich nicht mehr aus politischen Gründen, auch nicht mehr illegal und im Verborgenen. Sondern institutionell gefördert durch das Land Berlin, mit vielen ausländischen Gästen und entsprechend internationaler Wirkung.
Ein offenes Haus für Literatur
Eine gewisse Kontinuität gibt es, das bestätigt auch Wohlfahrt. „Prenzlauer Berg ist ein wichtiger Bezirk für uns.“ Denn auch die nunmehr zwanzigjährige Geschichte seines Hauses selbst ist eng mit dem Stadtteil verbunden. Nach der Wende, 1991, besetzten Autoren und Übersetzer zunächst den ehemaligen Sitz des Schriftstellerverbands der DDR am Majakowskiring 46/48 in Pankow – sie wollten den einstmals geschlossenen Club der 80er Jahre in ein offenes Haus für Literatur verwandelt sehen. Christa Wolf und Adolf Endler gehörten zu diesen Autoren, auch Bert Papenfuß und Elke Erb waren früh dabei.
Als die Literaturwerkstatt 2004 in die Kulturbrauerei umzog, war das für Wohlfahrt eine Art Rückkehr: Er kannte die Gegend bereits vor der Wende, in den 80er Jahren hatte er in der Erich-Weinert-Straße gelebt. Geboren 1956 in Eisenach, hatte er nach dem Studium der Germanistik und Musikwissenschaften an der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin als Literaturwissenschaftler gearbeitet.
Wirklich zufrieden war er nicht: 1988 machte er „rüber“ nach West-Berlin – „aus politischen und beruflichen Gründen“, erklärt er. „Ich bin durch die Friedrichstraße abgehauen. Das war relativ unspektakulär, auch wenn man mich bei einer Kontrolle an dem Tag leicht hätte erwischen können. Seit 1987 konnte ich reisen, obwohl ich nicht in der Partei war, nicht mal in der Gewerkschaft. Es gab damals schon eine Politik der allmählichen Öffnung, seitens der Akademie, aber auch im ganzen Staat.“
Die Zahnärztin und der „Schaden“
In der Bundesrepublik war er zunächst arbeitslos, arbeitete hier und da für Presse und Rundfunk. Eines Tages aber brachte ihm seine Zahnärztin eine Ausgabe des „Schaden“ mit, eine der wichtigsten DDR-Untergrundzeitschriften. „Ich kannte diese Publikationen teilweise, hatte auch am Rande Kontakt zu der Szene. Aber als ich dieses Heft sah, das so gut wie nichts kostete, und diese unglaublichen Beiträge von Cornelia Schleime, Bert Papenfuß und anderen enthielt – da wurde mir klar: Hier läuft was falsch.“ Er befasste sich also genauer mit diesen Zeitschriften, sichtete sie und wertete sie wissenschaftlich aus; 1992 gehörte er zu den Herausgebern eines Sammelbandes zur „Kunst und Literatur aus unabhängigen Zeitschriften in der DDR 1979-1989“ (Vogel oder Käfig sein, Edition Galrev 1992).
Für die Künstler, die darin zu Wort kamen – Annett Gröschner, Jan Faktor, Uwe Kolbe, Andreas Koziol und viele mehr – waren nach Wohlfahrts Verständnis nicht in erster Linie explizite Systemkritik oder konkrete politische Forderungen charakteristisch. „Ihre Leistung bestand darin, dass sie sprachpflegend und sprachschöpfend arbeiteten. Das war hochpolitisch, weil dadurch die völlig bürokratisierte, politisierte, tote Sprache des Ostens wieder zum Tanzen gebracht wurde.“
Bei dem einen oder anderen Tänzchen wird man der Sprache bestimmt auch während des Poesiefestivals wieder zusehen können. Der Weg von Prenzlauer Berg bis zur Akademie der Künste ist übrigens gar nicht so weit wie man denkt.
Das Poesiefestival in Prenzlauer Berg: „Poet‘s Corner“, am Samstag, 18.6., von 16.30 bis 18 Uhr im Kultur- und Bildungszentrum Sebastian Haffner, Prenzlauer Allee 227. Weitere Informationen und vollständiges Programm unter www.literaturwerkstatt.org.