Je länger man in Prenzlauer Berg „lebt und arbeitet“, desto seltener begegnet man Menschen, die keinen Roman veröffentlicht haben. Kein Problem, aber eventuell ein Grund für weitere Bücher.
Vor ein paar Tagen twitterte der Schriftsteller Wladimir Kaminer: „Noch ein Buch fertig. Und ist das etwas Neues? Jedes literarische Werk mit Anspruch auf Wahrheit spricht davon, wie furchtbar das Leben ist.“ Nun ist der Autor von „Schönhauser Allee“ und „Ich bin kein Berliner“, der mit seiner Familie unweit des Mauerparks in der Gleimstraße lebt, trotz solch düsterer Gedanken für manche eher der Inbegriff des vielschreibenden Spaßdichters als das seriöse Aushängeschild des „LiteraturOrts Prenzlauer Berg“, den man dieser Tage erkunden kann. Aber Kaminer ist nun einmal hier, und er schreibt. Und das muss offenbar so sein. Schon weil er hier lebt. Oder er lebt hier, eben weil er so viel schreibt. Oder – egal.
Literatur als Heimatmaschine
Jedenfalls: Das Da-Sein und das Schreiben in Prenzlauer Berg scheinen einander zu bedingen. Auch wenn die Gegenwartsliteratur mit der Szene des Vorwende-Bezirks schon personell recht wenig zu tun hat, als das örtliche Schreiben fast automatisch hieß, Kritik am großen Ganzen zu üben, und als das Veröffentlichen auf halb- bis illegalen Wegen Teil des oppositionellen Selbstverständnisses war.
Heute hilft das Verfassen von Texten aus und über Prenzlauer Berg offenbar vor allem beim Heimischwerden (und das gilt natürlich auch für journalistische Texte wie diesen). Das ist nichts Kleines, auch wenn es bescheiden auftreten mag: das Bekannte fremd machen, das Unbekannte vertraut und so weiter. Aufnehmen, verarbeiten und dadurch auch den Blick und das eigene Viertel verwandeln. Literatur als Heimatmaschine für Leser und Autor.
Schließlich sind einige der bekanntesten Schriftsteller Prenzlauer Bergs bzw. viele Prenzlauer-Berg-Verdichter gar nicht von hier, wie ja überhaupt viele Prenzlauer Berger gar nicht von hier sind, was viele empört, aber zur Zeit vor 1989 noch nicht das Haupt-Thema der politischen Debatten war. Der Lyriker Gerhard Falkner („Gegensprechstadt“) zum Beispiel kommt aus dem mittelfränkischen Schwabach. Kaminer: Moskau. Torsten Schulz ist in Friedrichshain aufgewachsen. Und unser in Zagreb geborener PBN-Kollege Nicol Ljubić, dem übrigens schon wieder eine Auszeichnung für „Meeresstille“ zuteil wurde, in Griechenland, Schweden und Russland.
Entsteht da im Fenster gegenüber gerade der neue „Axolotl Roadkill“?
Dabei hat man hier drei Möglichkeiten: den Mythos Prenzlauer Berg kritisch weiterschreiben, gegen ihn anschreiben oder einfach schön fluffig unverbindlich bleiben. An mindestens einer der drei Varianten arbeiten offenbar alle um mich herum. Von Freunden und Bekannten erfahre ich es beiläufig beim Kaffee, in der Kino-Schlange, aus einer Pressemitteilung oder Verlagsvorschau; von anderen kann ich es nur erahnen: Tagsüber sehe ich sie zuversichtlich oder ein bisschen verzweifelt in den Cafés vor ausgedruckten Seiten sitzen, nachts leuchten in den Fenstern gegenüber ihre Gesichter im Schein der Monitore. Vielleicht sehen sie mich, wie ich da über sie nachdenke, und machen Literatur aus mir, wie ich gerade sehr vereinzelt im Zimmer sitze, am Schreibtisch, im Lichte des Laptops.
Wird man je lesen, was sich da ein Mensch gerade abringt? Wird es überhaupt jemals jemand erfahren? Entsteht dort gar jetzt, in diesem Augenblick, die nächste Medien-Sause wie vor eineinhalb Jahren um „Axolotl Roadkill“ von Helene Hegemann? Damals, als sie die Republik zum Beben brachte, lebte sie teilweise noch in Prenzlauer Berg, dann zog sie weg. Ich sah sie danach noch ein paar Mal die Marienburger hinuntergehen, aber sie wohnt nicht mehr hier.
Erinnerungs-Kollisionen bei Bier und Häppchen
Mit Schrecklichem ist ja auch hier jederzeit zu rechnen. Weil hier alles Tür an Tür ist, kollidieren bisweilen das Fluffig-Nette und das Schreckliche sogar auf verwirrende Art. Auf einer Party letzten Sommer unterhielt ich mich auf einem Balkon am Arnswalder Platz mit einem Bestsellerautor. Man blickte gemeinsam hinaus zu den Bäumen, hinter denen sich 2007 der Ex-Stasi-Spitzel Karlheinz Schädlich eine Kugel in den Kopf geschossen hat, der Bruder des Schriftstellers Hans Joachim Schädlich (Karlheinz konnte unter anderem das Wohlstands-„Ghetto“ und den Kinderlärm nicht mehr ertragen, hieß es).
Über Schädlich sprachen wir aber gar nicht. Dort auf dem Balkon stellte sich vielmehr heraus, dass die erste Berliner Wohnung des damals noch unbekannten Bestsellerautors, als er Mitte der Neunziger ins unsanierte Bötzowviertel zog, meine jetzige ist. Und dass sich mit der Sanierung im Jahr 2000 der Grundriss komplett verändert hat: Wo jetzt mein Schreibtisch steht, war früher sein Klo. Das erklärt vielleicht das befreiende Gefühl beim Artikelschreiben, mag sich ein spitzfindiger Leser jetzt denken.
Das alles lehrt uns, nun ja, wahrscheinlich nichts. Es sei denn, ein Dichter wird es uns demnächst erschließen. Wem bis dahin als Autor und/oder Leser die Welt hier zu klein wird oder die Anzahl der schreibenden Nachbarn zu unübersichtlich, dem bleiben immer noch die unergründlichen Weiten der Provinz, seit Jahren das nächste große Ding in der Literatur. Ein Freund, bis vor kurzem in der Greifswalder Straße wohnhaft, schrieb so viel – auch ein Spaßbuch war darunter -, dass er am Ende einen flackernden Blick bekam und lieber wieder in die alte Heimat zog. Dort sitzt er nun in einem Garten und schreibt nur noch „zwei Seiten pro Tag“, wie er in einer seiner selten gewordenen E-Mails beruhigt feststellt.