„Liebkind“, ein neues Stück der Gruppe „PortFolio Inc.“, stellt im „Theater unterm Dach“ beunruhigende Fragen zum Thema Kindesmissbrauch
Da hatte sich doch gerade noch Til Schweiger in der ZDF-Talkshow von Markus Lanz so plakativ in Rage geredet. Um Verbrechen an Kindern ging es in der Sendung, um Sexualdelikte wie im Fall des ermordeten, zehnjährigen Mirco. Schweigers Haltung dazu war klar: Eine Tätergesellschaft sei Deutschland, empörte er sich, um die Opfer kümmere sich keiner. „Wir brauchen eine Meldepflicht für Sexualstraftäter.“
Und tags darauf geht man dann ins Theater unterm Dach, zur Premiere von „Liebkind“, und ist irgendwie froh, dass hier weit und breit kein Til Schweiger zu sehen ist. Es geht in der Inszenierung von Marc Lippuner und der von ihm mitbegründeten Theaterformation „PortFolio Inc.“ nämlich um körperliche Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen. Um Missbrauch, um Pädophile und Kinderschänder. Und natürlich auch um deren Opfer. Die klingen in dem Stück keineswegs immer leidend, wenn sie erzählen, was ihnen als Kind zustieß, und man ist davon zutiefst verstört. Wie würde Schweiger das wohl erst finden?
Ein Mann spricht da zum Beispiel von seiner „Liebe“ zu einem dreiunddreißigjährigen Arzt – der mit ihm Sex hatte, als er elf war. Die Passagen sind an einen Text Ronald M. Schernikaus aus seinem Hauptwerk „Legende“ angelehnt. Noch als erwachsener Mann bemitleidet der Erzähler seinen damaligen Verführer. Immer habe der Ärmste mit einem Bein im Gefängnis gestanden, bloß weil er mit ihm „kuschelte.“ In diesem Zusammenhang heißt „kuscheln“ zwar nichts anderes als Masturbieren. Aber egal, meint der Erzähler, „es war richtig.“ Und mehr noch, „wir hatten einander erwählt.“
Väter, Nachbarn, Klavierlehrer
In wechselnden Rollen tragen die drei Schauspieler Lutz Aikele, Anja Dreischmeier und Michael F. Stoerzer solche Provokationen vor. Sie erzählen aber auch von den Zeiten, als selbst die SPD den Paragrafen 176 des Strafgesetzbuches abschaffen wollte, der Sex mit Kindern unter Strafe stellt. Und machen sich ein wenig über Stephanie zu Guttenbergs Sendung „Tatort Internet“ auf RTL-2 lustig. Mitunter ergeben sich da extreme Kontraste zu anderen Szenen, in denen Menschen offen über ihr lebenslanges, tiefes Leiden an den sexuellen Übergriffen ihrer Väter, Nachbarn, Klavierlehrer reden.
Kurz: „Liebkind“ ist ein echtes Debattenstück, eine Aneinanderreihung konträrer und teilweise hochbrisanter Statements. Und was macht man als Bühnenausstatter, wenn man eine Aneinanderreihung konträrer, hochbrisanter Statements farblich in Szene setzen will? Richtig: Man hält sich, wie Halina Kratochwil, ausschließlich an die Farben schwarz und weiß. Weiße Kostüme, weiße Vorhänge, ein schwarzer Bühnenraum.
Vanilleeis und der Schnurrbart Adolf Hitlers
Nun sind Gut und Böse, Schuld und Unschuld, Opfer und Täter im echten Leben nicht immer so klar unterscheidbar wie, sagen wir, ein Vanilleeis und der Schnurrbart Adolf Hitlers. Nicht einmal in der Diskussion um Kindesmissbrauch. Wie wichtig ist es zum Beispiel, zwischen Pädophilen, Kinderschändern und Sexualstraftätern zu unterscheiden? Fängt hier schon der Täterlobbyismus, die Bagatellisierung an? Brauchen wir tatsächlich, wie Til Schweiger fordert, eine Meldepflicht für Sexualstraftäter? Die literarischen und dokumentarischen Texte, aus denen das Stück besteht, sind kommentarlos nebeneinander gestellt und widersprechen einander zum Teil, und diese unaufgelösten Gegensätze steckt man am Ende des Abends nicht so einfach weg. Anders als Schweiger bietet „Liebkind“ eben keine eindeutigen Antworten an; es stellt zutiefst beunruhigende Fragen, eröffnet einen Diskurs.
Am Schluss setzen die Schauspieler aus vielen weißen Zahnrädern und schwarzen Puzzleteilen eine kleine Maschine zusammen, eine Art Uhrwerk ohne Zeiger, das sich schließlich in Bewegung setzt. Kleine Piktogramme drehen sich darauf im Kreis, eine Papp-Kirche, ein Krankenhaus, ein Bett, ein Koffer, lauter kleine Gesellschafts-Bausteine umrunden einander auf wackeliger Bahn. Sie fluoreszieren im Dunkel, wie diese kleinen Leuchtsternchen, die man Kindern übers Bett klebt, damit sie gut einschlafen können.
Weitere Vorstellungen am 4., 17., 18. Februar, 3., 4. März, 13., 14. April, jeweils um 20 Uhr im Theater unterm Dach, Danziger Straße 101. Karten zu 8/5 Euro unter 902 95 38 17.