Anleitung zum Bürgerin-Sein

von Nataly Bleuel 21. Januar 2011

Unsere Autorin Nataly Bleuel hat in Prenzlauer Berg eine Bürgerinitiative gegründet. Gefordert hat sie die Aufstellung einer Ampel, bekommen hat sie einen neuen Titel: Bürgerin.

Meine Verwandlung begann, als der ältere Herr die kleine Runde in dem neonbelichteten Raum begrüßte und sagte: „Und unter uns sind heute auch die Damen von der Bürgerinitiative Verkehr“. Bestimmt habe ich entsetzt gekuckt, Nina war schneller und rief laut: „Nein!“. Ich wusste sofort, was sie dachte: Wir – eine „Bürgerinitiative“??

Als da der bärtige ältere Herr verdutzt stockte, begann sie zu stottern: „Also, Bürgerinitiative… Verkehr, na ja, wenn schon, dann, ehm… ja: Verkehrs-Beruhigung!“. „Genau“, sagte ich, dankbar für den Ausweg. Und dann schwieg ich den Rest des Abends. Bis wir zwei beiden Damen dran waren mit unserer Geschichte.

Die geht so, dass ich eines Tages mit meinen zwei kleinen Jungs aus dem Haus trat, um mit ihnen in den Park zu gehen, unseren Friedrichshain. Es ist ein toller Park, mit Bolzplatz, Half-Pipe, Ententeich und Biergarten, und die Menschen lieben ihn. So sehr, dass täglich hunderte von Kindern, Eltern, alten Leuten und noch mehr Kindern von ihrem Wohnviertel in diesen Park strömen; und an Wochenenden der halbe Prenzlauer Berg. – Doof nur, dass wir dafür die Straße am Friedrichshain überqueren müssen, die ist zu schnell und zu stark befahren. Ein Hund ist schon mal zu Tode gekommen.

 

Löwe und Melone fordern: Wir wollen eine Ampel

 

An jenem Tag vor fünf Jahren stand dort ein Puppentheater, davor saßen Rudel von Kindern, sie waren geschminkt als Löwen und Melonen, und alle 20 Minuten gingen sie auf die böse breite Straße, zwangen die Autos zum Anhalten und riefen: Wir wollen eine Ampel! Mein Sohn, der Löwe, und seine Nachbarin, die Melone, hielten sich dann die Hände und jemand brachte ihnen bei, wie man eine Faust in den Himmel reckt, und da lachten sie und skandierten noch lauter: Wir wollen eine Ampel! Dieser Anblick – dieses kleine Wir – machte mich stolz, ja: glücklich.

Das war die Initialzündung. Und die war dringend nötig. Denn der Spaß war bald vorbei. An jenem Abend in der Sitzung der „Betroffenenvertretung“ des Bötzowviertels schwieg ich erschrocken. Und staunend. Denn ich war – mitten in meinem coolen Junge-Familien-Kiez – in eine mir fremde Welt geraten. So fremd, dass ich manchmal auflachen musste, weil ich dachte: Das ist ja wie im Theater! Da saßen „Bürger“ und diskutierten mit einem „Bezirksverordneten“, einem Herrn Bechtler, einem Herrn Lexen, dem Leiter von irgendeinem „Tiefbauamt“, und einer „Bezirksstadträtin“ in fließendem Amtsdeutsch über Dinge, die ihnen wichtig waren. Dinge die ich, anders als den Namen von Frau Zürn-Kasztantowicz, gerade noch buchstabieren konnte: Parkraumbewirtschaftung, Eingabeverordnung, Grünflächenamt, Sekundarschule, und natürlich ging es um diese und jene Gelder und dass es kaum welche gibt, weil wir sind hier in der Krise und sowieso: in Berlin.

Hinter den Begriffen, das bekam ich mit, ging es um fehlende Turnhallen, fehlende Grundschulen, einen fehlenden Jugendclub, die Schließung der Bibliothek, die Schließung der Musikschule, die Dimmung der Straßenbeleuchtung, die zu kalte Schwimmhalle, den Bau von Spielplätzen. Und schlussendlich eben auch darum, dass es diese viel zu stark und viel zu schnell befahrene Straße gibt, die unser Viertel vom Park trennt. Und über die meine Kinder nicht alleine gehen dürfen, weil sie sonst ums Leben kommen könnten. Also: Ging es da letztendlich um Leben und Tod. In der Politik, im Kleinen.

 

Im Grunde wollten diese Ampel alle, seit mehr als 30 Jahren schon

 

„Wir wollen da eine Ampel und einen Zebrastreifen und Tempo 30″, sagten Nina und ich, total umgangssprachlich, und blickten diesem Bezirksbaumenschen tief in die Augen. Der nickte fröhlich. Wie alle anderen auch. Denn im Grunde, das schnallten wir dann allmählich, wollten das hier alle. Und zwar seit mehr als 30 Jahren. Nur dass zu wenige die Kraft und Zeit aufbrachten, neben Job und Kindern auch noch „Bürgerinitiativen“ zu organisieren.

Alle unsere Mitstreiterinnen waren berufstätige Mütter oder schlecht bezahlte Erzieherinnen, die in ihrer Freizeit noch Babysitten gingen, und also fast nie Zeit hatten. Und dass es da so unglaublich komplexe Interessenlagen gab: Die einen brauchten die Ausfallstraße schon in der DDR, um vom Palast der Republik zu ihren Seegrundstücken bei Wandlitz zu brettern; angeblich wollte man, so erzählte der bärtige ältere Herr, für diese very important Schneise sogar mal den jüdischen Friedhof in Weißensee zerteilen. Dann gehört die Parkseite der Straße nicht zu unserem Bezirk, sondern zum Bezirk Friedrichshain. Eine Ampel sei sowieso viel zu teuer. Der Senat bewillige Gelder nicht. Aber vielleicht Europa. Ein Gutachter müsse her. Ein Verkehrsaufkommensmessungsverfahren, eine Unfallstatistik. Eine Mehrheit in der Bezirksverordnetenversammlung. Ein Bezirksverordneter, der sich für unser Anliegen einsetzte, am besten der Stadtrat. Und dieser bärtige ältere Herr – wir sollten ihn Klaus nennen, den Klaus Lemmnitz -, der uns die Welt erklärte, zumindest wie sie im Bezirksamt funktioniert. Davon hatten wir keine Ahnung. Ja, ich hatte wirklich – konkret! – überhaupt keine Ahnung, wie so eine Mitbestimmung funktioniert.

Auf dem Nachhauseweg habe ich in meinem Handy (in dem ich täglich mehrmals die Weltlage checke) gegoogelt, wie unser zuständiger Bezirksstadtrat eigentlich heißt (Nilson Kirchner). Aus welcher Partei er ist (Grüne). Und was der Unterschied ist zwischen einer Eingabe und der Einreichung einer Einwohneranfrage.

 

Eine Bürgerinitiative ist, wie 18 Jahre alt zu werden

 

Am nächsten Morgen habe ich zu meinem Freund gesagt: „Wir sind jetzt eine Bürgerinitiative“. Ich hätte auch sagen können: Ich bin gerade 18 geworden. Oder: Allmählich verstehe ich, wie Demokratie funktioniert. So ernst hat er mich angeschaut. Ich bin ein Kind meiner Zeit. Politik habe ich meinen Eltern überlassen und selbst mehr von Inszenierung verstanden. Das ist mir durch die Sache mit der „Bürgerinitiative Verkehrsberuhigung“ klar geworden. Wir Damen nennen sie unter uns: Straßenkampf. Leicht ironisch – typisch! Die zweite Demo auf der Straße war ein Spektakel, wie es die Alten aus der Betroffenenvertretung wohl länger nicht gesehen hatten: Ballons, Zirkus, Kinder, Bemalung, Schilder, Transparente, Prominente, Kameras, Presse, Musik, Theater!

Und dann: wieder der mühselige Gang durch Verfahren und Ämter. Es gibt, zwei Jahre später, einen Straßen-Verkehrsberuhigungs-Plan. Und sogar ein bisschen Geld. Und jede Menge Ideen, wie eine Straße zu beruhigen ist. Den Herrn Bechtler, Cornelius, von den Grünen können wir da fragen, wenn wir was nicht kapieren, er ist Verkehrs-Experte.

Das Ideal heutzutage scheint uns die chaotische Dorfstraße zu sein: wo alle auf alle achten müssen, mit Hirn und Herz und nicht durch Schilder und Verbote. Also versucht man anhand von allerhand Kleinigkeiten das Tempo zu drosseln. Es heißt, die Bushaltestellen würden „vorgestreckt“ (i.e.: Wenn der Bus hält, müssen die Autos dahinter stehen bleiben). Wir bekämen einen Fahrradstreifen, dadurch würden die Autospuren schmaler und weniger nach Schnellstraße anmuten. Seit die Autos bis zur Kreuzung am Märchenbrunnen parken dürfen, ist die Straße enger, gleicher Effekt. Die Insel an der Hufelandstraße soll größer werden, weil Erzieherinnen in der Betroffenenvertretung dem Herrn Lexen erzählt haben, dass sie sich da wirklich nicht mit einem Dutzend Kindern drauf retten können. Übergänge sollen mit Pollern in die Straße rein gezogen werden.

Seit Herbst nun wird die Kreuzung vor dem Kino umgebaut: Übergänge und Bushaltestelle in die Straße; Bötzowstraße im 90-Grad-Winkel auf den Friedrichshain, so dass der Überweg nicht mehr zwölf lange Meter beträgt und die Abbieger nicht mehr reinbrettern wie Schumi; das Sträßchen vor dem Seniorenfreizeitheim wird still gelegt und die Linde, ja, „unsere Linde“, sagt Klaus, die muss unbedingt bleiben. Da feiert er nämlich immer in den Mai, mit seiner Linken. Und das ist auch gut so.

 

Die Langsamkeit macht mürbe, Leute von heute sind Schnelligkeit gewöhnt

 

Wenn wir nur weiter dran bleiben, werden vielleicht auch irgendwann mal die anderen drei Kreuzungen in Angriff genommen. Nur für eine Ampel fehlt halt das Geld. Ein Zebrastreifen ist auch irgendwie schwierig. Der Senat will auf unserer Straße kein Tempo-30. Weil man die „nur zum Park“ und nicht zur Schule überqueren muss, höchstens zu einer privaten, gilt aber nicht. Es ist ein zäher Kampf. Er macht keinen Spaß. Aber ein Wir, ein gutes kleines Wir. Vermutlich sind meine Kinder schon erwachsen, bis andere Kinder die Straße alleine überqueren können. Diese Langsamkeit macht mürbe, wir Leute von heute sind Schnelligkeit gewöhnt. Doch vielleicht gibt es eine Zukunft.

Ich bin also an jenem denkwürdigen Abend in der „Betroffenenvertretung“ erwachsen geworden. Erwachsen in dem Sinn: als Staatsbürgerin, die Verantwortung übernimmt. Und, Leute, das wäre niemals geschehen, wenn ich keine Kinder bekommen hätte! Ich hätte weiter die große weite Welt bewohnt, München, Hamburg, New York, Berlin; Chinatown wäre mir näher gewesen als der Friedrichshain und vom Elend in Darfur hätte ich mehr gewusst als vom blätternden Putz auf den ollen Toiletten der Homer-Grundschule. Nicht dass das vergleichbar wäre. Aber zumindest hätte ich gegen beides nichts getan. Das hat sich geändert. Wenn man Kinder bekommt, beginnt man die Welt aus einer anderen Perspektive zu sehen. Und anzupacken.

Eines Tages standen Nina und ich in dieser Einwohnerfragestunde, um – auf den Rat von Klaus – vor den Bezirksverordneten unser Anliegen zu bekräftigen; Nina Kronjäger ist Schauspielerin, sie kann das laut. Es war ein großer Saal und plötzlich ging die Tür auf und aberdutzende von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen liefen herein, mit Trillerpfeifen und Transparenten. Auf denen stand: „Ohne Musik wäre unser Leben ein Irrtum“, von F. Nietzsche. Und als die Kinder im Anblick der Bezirksverordnetenversammlung zu skandieren begannen: Lasst uns unsere Musikschule! … da schossen Nina Tränen in die Augen und ich schämte mich, weil ich nicht mehr wusste, was ist nun wichtiger: Musik für alle? Oder Straße für alle? Oder Turnhallen, Bibliotheken, Krankenhäuser, Grundschulen oder Altenheime?  

 

Es fehlt nicht nur Geld, sondern auch Leute, um die Anträge zu bearbeiten

 

Einige Zeit später lief mir beim Joggen im Park mein Volksvertreter über den Weg. Ich rufe „Hallo Herr Bechtler!“. Er läuft weiter. Ich renne ihm hinterher. Er hört mich nicht. Dann haue ich ihn an und frage, was denn nun mit unserer Straße passiert und ob das Geld dafür am Ende in die Löcher fließt, die die Winter neuerdings reißen. Er schnauft und sagt: „Wenn Sie wüssten!“. Wir wollten das doch alle: dass unsere Straße weniger gefährlich und laut wird. Doch wir könnten es kaum mehr umsetzen. Nicht nur weil Geld für Poller fehlt. Sondern für Leute, die unsere Anträge und Beschlüsse bearbeiten. Also stapeln die sich. Und ihm, meinem Volksvertreter, sei es zunehmend peinlich, wenn ihn die Bürger fragten, was er denn nun für sie ausgerichtet habe?

Ich steh da in unserem Volkspark, der (noch) hingebungsvoll gepflegt und gehegt wird, und allmählich dämmert mir: Unsere Stadt ist so arm, dass ihr der Handlungsspielraum flöten geht. Was, wenn wir weiter behaupten, Demokratie zu wollen, sie uns aber nicht mehr leisten (können)?

Es geht hier um große Dinge, um Zukunft, Bildung, Globalisierung und Überleben. Auf einmal spüre ich das im Kleinen. Vor der Haustür, auf der Straße, im Kiez, in der Kommune. So also bin ich politisch aktiv geworden. Zum ersten Mal in meinem Leben, mit Ende 30. Manche mögen das peinlich finden, andere erschreckend. Ich aber lache mittlerweile nicht mehr, wenn einer „Bürgerin“ zu mir sagt. Gefällt mir schon mal besser als „Mutti“.

 

Gegründet wurde die Bürgerinitiative im Frühjahr 2008. Ein Jahr später sollen nun die Bauarbeiten beginnen: Die Ampel wird kommen, die Mittelinsel umgebaut, ein Radstreifen errichtet, die Bushaltestelle wird verlagert, und die Straßenecke Hufelandstraße umgestaltet. Das Geld dafür kommt vom Senat, Bezirk und aus Sanierungsmitteln.

Der Artikel ist im Frühjahr 2010 bereits in anderer Form bei NIDO erschienen. Für die Prenzlauer Berg Nachrichten hat Nataly Bleuel ihr Essay überarbeitet und lokalisiert. 

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