Susanne Truckenbrodt inszeniert Motive von Matthias Claudius als „installative Wort-Tanz-Performance“.
Auch am Premierenabend von „Toter Tag“ im Theater unterm Dach in der Danziger Straße lohnt es sich, ein paar Minuten vor Beginn die Nicht-Bühnenwelt auszuspähen. Leben gucken, gegen das „Toter-Tag“-Gefühl, so ungefähr. Draußen – vom Balkon aus ist es zu sehen – hängt eine dünne Mondsichel unterm Wolkenwulst, ein kosmischer Nasenring. Er ist nur kurz zu sehen, und einer der Premierengäste, in Rauch gehüllt, bemerkt später mit kindlich gespielter Entrüstung: „Wer hat den Mond geklaut?“
Der Mond ist aufgegangen
So geht es dann eigentlich auch drinnen weiter, jedenfalls mit Matthias Claudius (1740 bis 1814), dessen berühmtes „Abendlied“ („Der Mond ist aufgegangen“) sich also gewissermaßen aufdrängt. Aber Susanne Truckenbrodt, die einst die Theatergruppe „Orphtheater“ mitbegründete und die sich mit Inszenierungen von Ernst Barlachs „Sündflut“ oder Bertolt Brechts „Baal“ einen Ruf als skrupellos dünnnervige Performerin tonnenschwerer Texte erarbeitet hat, nahm sich diesmal Claudius’ kurzes Gedicht „Der Tod und das Mädchen“ vor. Zu einer „installativen Wort-Tanz-Performance“, so die Ankündigung, habe sie es verarbeitet. Also: Keine Geschichte, keinen psychologischen Realismus sollte man erwarten, erst recht kein politisches Theater, dafür Bewegung, Leerlauf, Nichts. Nichts verändert sich, aber „alles verschwindet“, das ist das Mantra dieses Abends.
Heiß ist der Lampenhauch
Kein Wunder, dass das weicharmige, liebäugige Mädchen (Nicole Janze) den Berührungen und krassen Spielereien des Todes (Marcus Staab Poncet) nicht widerstehen kann. Aus dem Jammertal schwer depressiver oder wenigstens bipolar gestörter Paare (von „ich will nicht mehr“ und „alles ist so lange her“ zu: „wir schaffen das!“ und „ich hab dich doch lieb!“ und wieder zurück) verspricht er sie zu führen. Aber leider auch wieder nur, damit der Lebens-Laden (so) weiterläuft, wie er entschuldigend dem Publikum erklärt.
In schicken gräulichen Zwirn gekleidet, unterscheidet sich der Tod vorteilhaft von den namenlosen, allesamt in Beige gehüllten Vier (Antje Görner und Uwe Schmieder, Sabine Gabris und Joachim Kühne). Jeder ist nur von schlimmeren oder besseren Varianten seiner selbst umgeben, beleuchtet von sepiafarbenem, den kalten Raum aufheizendem Scheinwerferlicht. Die Bühne: eine Blackbox mit dünnem weißem Boden unter den Füßen und gelegentlichem Ausblick auf den realen Prenzlauer Berg, und wenn die Figuren schon nicht aus dem Fenster springen (es bleibt meist bei halbherzigen Versuchen), zucken sie doch immerhin gemeinsam bei jedem bötzowbluesigen E-Gitarren-Schlag (Musik: Markus Götze) zusammen. Der Tod ist das Leben ist eine installative Wort-Sport-Performance.
Und lass uns ruhig schlafen
Truckenbrodt findet für ihre Trostlosigkeiten elegante choreographische Verdichtungen, die ihre Kenntnis des Butoh-Tanzes und ihr pantomimisches Können verraten, etwa wenn sie das Aufwachsen eines Kindes in wenigen Sekunden abhandelt: als buchstäbliches Großgezogenwerden unter dem mütterlichen, mal liebevollen, mal hämischen Satz „Du sagst immer, du kommst, und dann kommst du nicht.“ Auch der Tod darf sich diesen Vorwurf anhören. Und wer vom Tod spricht, darf in der Kunst schon seit Jahrhunderten die Monotonie nicht scheuen; auf einer Geige mit nur einer Saite fiedelt er, in Franz Schuberts „Winterreise“ dreht er die Leier, und in dessen Vertonung von Claudius’ „Der Tod und das Mädchen“ singt er fast ausschließlich auf einem einzigen Ton. In Truckenbrodts Inszenierung aber laufen sich Minimalismus und Reduktion schnell – nun ja – tot. Und dem Stück ist Claudius eigentlich relativ egal.
Und unsern kranken Nachbarn auch
Doch zu solchen Theaterabenden, die eine gewisse Leere hinterlassen, passt Claudius trotzdem hervorragend. Endet das „Abendlied“ nicht mit „und lass uns ruhig schlafen und unsern kranken Nachbarn auch“? Tanz die Empathie! Und während man im Weggehen das Foyer durchschreitet, wo Truckenbrodt haufenweise getragene Schuhe wie lauter gleichgültige kleine Tode verteilt hat, denkt man an das Gedicht und an das mondbeschienene Viertel draußen, in dem so mancher glaubt, die falschen Nachbarn zu haben.
Theater unterm Dach, Danziger Straße 101. Weitere Vorstellungen: 13., 14. Januar, 5., 6., 10., 11. Februar, 20 Uhr. Kartentelefon: 030/902 95 38 17